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Doorway Effect: Wie das Gedächtnis auf einen Zimmerwechsel reagiert
Aus Einstein² vom 04.07.2023.
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Türschwellen-Effekt Auf dem Weg in die Küche vergessen, was Sie da wollten?

Sie haben das Gefühl, Sie werden immer vergesslicher? Vielleicht ist es auch nur der Türschwellen-Effekt. Der kommt in den besten Familien – beziehungsweise Wohnungen – vor.

Das Phänomen ist aus dem Alltag bekannt: Wir sitzen im Wohnzimmer auf dem Sofa und wollen uns ein Glas Wasser holen. Wir stehen auf und gehen in die Küche. Doch dort angekommen, haben wir keine Ahnung mehr, warum wir in die Küche gegangen sind.

Der «Türschwellen-Effekt»

Das Phänomen ist in der Psychologie bekannt und hat sogar einen eigenen Namen: «Türschwellen-Effekt». Die Theorie dahinter: Unser Hirn unterteilt unsere Alltagserfahrungen automatisch in Episoden. Wenn wir einen neuen Raum betreten, beginnt für uns eine neue Episode. Und damit sind die Informationen aus der vorangegangenen Episode durch neue Informationen «zugedeckt» und werden leichter vergessen.

Überlastung des Arbeitsgedächtnisses?

Den Türschwellen-Effekt hat ein Team um den Psychologen Gabriel Radvansky in den letzten 20 Jahren mehrfach in Experimenten nachgewiesen. Wenn wir die Umgebung wechseln, braucht unser Gehirn Kapazität und Energie, um den neuen Kontext zu verarbeiten.

Das hat einen Einfluss auf unser Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis speichert Eindrücke und Informationen für wenige Sekunden. Wenn unsere Aufmerksamkeit nun durch eine neue Umgebung beansprucht wird, können vorher gespeicherte Inhalte schneller wieder aus dem Arbeitsgedächtnis herausfallen.

Experimente im echten und virtuellen Raum

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In den Studien von Gabriel Radvansky wird der doorway effect auch location-updating effect genannt, weil die neue Umgebung uns eine Verarbeitungsleistung abverlangt. In den Experimenten mussten Probandinnen und Probanden verschiedene Objekte in verschiedenen Farben – beispielsweise Würfel, Scheiben oder Kreuze – von einem Tisch zu einem anderen tragen und in eine Schachtel legen. Dann wurden sie gefragt, welches Objekt in welcher Farbe sie gerade verstaut hatten.

In der einen Versuchsbedingung waren zwei Tische im gleichen Raum, in der anderen mussten sie dazwischen den Raum wechseln. Wenn die Versuchspersonen den Raum wechseln mussten, hatten sie eine höhere Fehlerquote und eine längere Antwortzeit als ohne den Raumwechsel. Die Gehdistanz war in beiden Bedingungen die gleiche. Die Experimente wurden in virtuellen und in echten Räumen durchgeführt. In beiden trat der Effekt auf.

Bei der Interpretation der Ergebnisse gibt es zu beachten, dass wir im Alltag uns selten auf diese Art an die Beschaffenheit von Objekten erinnern müssen. Wir erinnern uns eher an Absichten oder Aufgaben (‹ich wollte ein Glas Wasser holen›), die direkter mit unserer persönlichen Motivation verknüpft sind, als an abstrakte Prüfungsaufgaben.

Hilft zurückgehen?

So weit, so alltagsnah. Weniger intuitiv ist das Ergebnis in einem von Radvanskys Versuchen. Die Teilnehmenden konnten sich auch dann nicht besser erinnern, wenn sie wieder in den Ursprungsraum zurückgingen. «Das liegt möglicherweise am speziellen Versuchsaufbau dieser Studien, in denen vorbestimmte Objekte erinnert werden sollten und die Räumlichkeiten oft virtuell oder nicht so gut vertraut waren», sagt Experte Sebastian Horn.

«Oft ist es für den Abruf aber hilfreich, die Situation möglichst wieder herzustellen, in der die Information ursprünglich eingespeichert wurde.» Um beim Beispiel von oben zu bleiben: Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, und sofort fällt uns wieder ein: Ein Glas Wasser wollten wir holen! 

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Aus dem Archiv: Hirn-Training mit der Gedächtnis-Weltmeisterin
Aus Einstein vom 15.04.2010.
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Besser Bibliothek als Badi

Dass wir uns besser erinnern, wenn wir wieder am Ort des Einspeicherns («Enkodierens») oder zumindest in einem ähnlichen Kontext sind, ist in der Gedächtnisforschung relativ gut belegt und als «Prinzip der Enkodierungsspezifität» bekannt.

«Ich empfehle meinen Studierenden, sich zum Lernen einen ähnlichen Kontext zu schaffen, wie er dann auch an der Prüfung herrscht», sagt Sebastian Horn. Also besser in die Bibliothek als in die Badi.

Wie wir uns an Absichten erinnern

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Sebastian Horn ist Senior Researcher am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Er forscht u.a. zum sogenannten prospektiven Gedächtnis. Beim prospektiven Gedächtnis geht es darum, dass uns eine Absicht wieder zum richtigen Zeitpunkt einfallen sollte (z.B. ‹auf dem Nachhauseweg noch Brot kaufen›).

Es kann leicht passieren, dass wir Absichten vergessen (wenn wir z.B. eine E-Mail ohne den Anhang verschicken). Manchmal hingegen erinnern wir uns noch an das Bestehen einer Absicht («irgendetwas wollte ich doch noch tun»), aber nicht mehr an den Inhalt (retrospektiver Aspekt des Erinnerns). Prospektives (erinnern, dass) und retrospektives (erinnern, was) Gedächtnis müssen für erfolgreiches Erinnern im Alltag gut zusammenspielen. Beim Türschwellen-Effekt wurde vor allem das retrospektive Gedächtnis untersucht

Zweifel in der Forschung

Doch zurück zum Türschwellen-Effekt: Neuere Forschungsarbeiten sind etwas kritischer, ob der Effekt wirklich so gross und relevant ist. Eine Studie in Australien konnte den Effekt nur dann reproduzieren, wenn die Probandinnen und Probanden zusätzlich mit einer Kopfrechnungsaufgabe abgelenkt wurden.

Auch das leuchtet ein: Meist vergessen wir unsere Absichten dann, wenn wir mit unseren Gedanken ganz woanders sind. Dann kann die Türschwelle der Tropfen sein, der das Gedächtnisfass zum Überlaufen bringt.

Bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht ist die Frage, ob Menschen, die in einem Loft ganz ohne Türen wohnen, nie irgendetwas vergessen. Wie heisst es oft so schön? «Further research is needed.»

Einstein^2, SRF1, 12.07.2023, 08:07 Uhr

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