Das Phänomen ist aus dem Alltag bekannt: Wir sitzen im Wohnzimmer auf dem Sofa und wollen uns ein Glas Wasser holen. Wir stehen auf und gehen in die Küche. Doch dort angekommen, haben wir keine Ahnung mehr, warum wir in die Küche gegangen sind.
Der «Türschwellen-Effekt»
Das Phänomen ist in der Psychologie bekannt und hat sogar einen eigenen Namen: «Türschwellen-Effekt». Die Theorie dahinter: Unser Hirn unterteilt unsere Alltagserfahrungen automatisch in Episoden. Wenn wir einen neuen Raum betreten, beginnt für uns eine neue Episode. Und damit sind die Informationen aus der vorangegangenen Episode durch neue Informationen «zugedeckt» und werden leichter vergessen.
Überlastung des Arbeitsgedächtnisses?
Den Türschwellen-Effekt hat ein Team um den Psychologen Gabriel Radvansky in den letzten 20 Jahren mehrfach in Experimenten nachgewiesen. Wenn wir die Umgebung wechseln, braucht unser Gehirn Kapazität und Energie, um den neuen Kontext zu verarbeiten.
Das hat einen Einfluss auf unser Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis speichert Eindrücke und Informationen für wenige Sekunden. Wenn unsere Aufmerksamkeit nun durch eine neue Umgebung beansprucht wird, können vorher gespeicherte Inhalte schneller wieder aus dem Arbeitsgedächtnis herausfallen.
Hilft zurückgehen?
So weit, so alltagsnah. Weniger intuitiv ist das Ergebnis in einem von Radvanskys Versuchen. Die Teilnehmenden konnten sich auch dann nicht besser erinnern, wenn sie wieder in den Ursprungsraum zurückgingen. «Das liegt möglicherweise am speziellen Versuchsaufbau dieser Studien, in denen vorbestimmte Objekte erinnert werden sollten und die Räumlichkeiten oft virtuell oder nicht so gut vertraut waren», sagt Experte Sebastian Horn.
«Oft ist es für den Abruf aber hilfreich, die Situation möglichst wieder herzustellen, in der die Information ursprünglich eingespeichert wurde.» Um beim Beispiel von oben zu bleiben: Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, und sofort fällt uns wieder ein: Ein Glas Wasser wollten wir holen!
Besser Bibliothek als Badi
Dass wir uns besser erinnern, wenn wir wieder am Ort des Einspeicherns («Enkodierens») oder zumindest in einem ähnlichen Kontext sind, ist in der Gedächtnisforschung relativ gut belegt und als «Prinzip der Enkodierungsspezifität» bekannt.
«Ich empfehle meinen Studierenden, sich zum Lernen einen ähnlichen Kontext zu schaffen, wie er dann auch an der Prüfung herrscht», sagt Sebastian Horn. Also besser in die Bibliothek als in die Badi.
Zweifel in der Forschung
Doch zurück zum Türschwellen-Effekt: Neuere Forschungsarbeiten sind etwas kritischer, ob der Effekt wirklich so gross und relevant ist. Eine Studie in Australien konnte den Effekt nur dann reproduzieren, wenn die Probandinnen und Probanden zusätzlich mit einer Kopfrechnungsaufgabe abgelenkt wurden.
Auch das leuchtet ein: Meist vergessen wir unsere Absichten dann, wenn wir mit unseren Gedanken ganz woanders sind. Dann kann die Türschwelle der Tropfen sein, der das Gedächtnisfass zum Überlaufen bringt.
Bisher noch nicht wissenschaftlich untersucht ist die Frage, ob Menschen, die in einem Loft ganz ohne Türen wohnen, nie irgendetwas vergessen. Wie heisst es oft so schön? «Further research is needed.»