Mujinga Kambundji, die schnellste Sprinterin der Schweiz, hat gerade ihren Europameistertitel über 200 Meter in Rom verteidigt. Die Ambitionen der Doppel-Europameisterin für die Olympischen Spiele in Paris sind hoch: «Ich will immer so nah wie möglich an meine Grenzen gehen», sagt Kambunji.
Bis Paris möchte sie so fit sein, dass mit den Besten mithalten könne, denn: «Eine Olympiamedaille fehlt mir ihr noch», ergänzt sie verschmitzt.
Für Mujinga Kambundji ist es essenziell, immer wieder ihre persönlichen Grenzen zu testen und zu verschieben. Kraft hat sie genügend aufgebaut. Jetzt konzentriert sie sich darauf, ihre Sprinttechnik zu perfektionieren, um diese Kraft optimal in Schnelligkeit umzusetzen. Denn ein Sprint ist viel mehr als nur schnelles Laufen.
Overspeed-Training
Kambundji setzt dabei auch auf sogenanntes Overspeed-Training. Und das funktioniert so: Eine spezielle Zugmaschine zieht sie an einem Kabel und lässt sie schneller sprinten, als sie es normalerweise könnte. «Ich komme im Training nie an die Zeiten heran, die ich im Wettkampf erreiche. Dieses Training pusht mich, weil der Zug mich zwingt, auf höherem Niveau zu laufen», erläutert sie.
Mit der Zugmaschine sprintet Mujinga rund zehn Prozent schneller. Ihr Körper und ihr Nervensystem gewöhnen sich so an Wettkampfgeschwindigkeiten und die Bewegungsabläufe werden perfektioniert. «Für Sprinterinnen ist es fast die einzige Möglichkeit, die Wettkampfgeschwindigkeit im Training zu erreichen», erklärt Mujingas Trainer Florian Clivaz. «Normalerweise braucht man wirklich ein Publikum und eine grosse Portion Adrenalin, um Topspeed zu laufen.»
ETH-Forschende machen Mujinga noch schneller
Eine Neuentwicklung der ETH Zürich hebt dieses Training nun auf eine neue Stufe. Der sogenannte «Airshield» ist ein Windschutz, der vor Kambundji hergezogen wird und den Luftwiderstand praktisch eliminiert. Mujinga Kambundji kann deshalb ebenfalls schneller sprinten, ähnlich wie mit der Zugmaschine. Allerdings ohne störendes Kabel, welches am Körper zieht. So ist der Bewegungsablauf viel natürlicher.
Die Idee stammt ursprünglich aus Italien: vom Team um den 100-Meter-Olympia-Sieger Lamont Marcell Jacobs. Allerdings wurde der Schild bei ihm von einem normalen Auto gezogen, was es anspruchsvoll machte, das Tempo der Geschwindigkeit des Sprinters anzupassen.
ETH-Forschende haben diesen Ansatz deshalb weiterentwickelt. Der Airshield der ETH ist mit Sensoren und Kameras ausgestattet, die die Distanz zur Läuferin automatisch regulieren.
Airshield könnte zum Gamechanger werden
Mujinga Kambundji ist vom Airshield beeindruckt und hat sofort Vertrauen in das neue Trainingsgerät gefasst: «Ich habe das Gefühl, dass dies viel ausmachen kann, weil es ein natürlicheres Laufen ist, als wenn mich ein Kabel in eine andere Position zieht, die ich sonst nicht einnehme.»
Für die ETH-Physiologin Christina Spengler, die jetzt die genauen Auswirkungen des Airshields auf Training und Bewegungsabläufe untersucht, könnte sich diese Technologie zu einem Gamechanger im Sprint entwickeln. Und für einen Vorteil für die Schweiz sorgen, solange nur Schweizer Sportlerinnen und Sportler damit trainieren.
Minimaler Luftwiderstand ist entscheidend
Auch die Rad-Goldhoffnung Marlen Reusser hat sich für die Olympischen Spiele viel vorgenommen: «Ich würde gerne Gold gewinnen. Das wäre sehr, sehr cool», gibt Reusser unumwunden zu. Doch mit ihrem Training ist sie im Verzug.
Nach einem schweren Sturz im März mit einem Kieferbruch und weiteren Verletzungen hat sie zusätzlich noch an den Folgen einer heftigen Infektion zu kämpfen. Trotz dieser Hindernisse bewahrt Reusser eine optimistische Einstellung: «Ich habe gelernt, dass man nicht immer funktionieren muss und Pläne flexibel anpassen kann, so wie es für einen selbst richtig ist.» Damit habe sich auch die Perspektive auf Olympia verändert. «Trotzdem kommt es im Leben auch immer darauf, daran zu glauben. Denn es ist vieles möglich.»
Trainingsrückstand – aber Topmaterial
Körperlich ist Reusser sicher noch nicht auf dem gewünschten Niveau. Vom Material her aber schon. Im Windkanal der Technischen Hochschule in Mailand, wo sonst Flugzeuge und Autos auf ihre Aerodynamik getestet werden, wurden dieses Jahr Marlen Reusser und ihr Rad stundenlang geprüft. Ihre Sitzposition und das Cockpit, also Lenker und Bremse, wurden perfektioniert.
Jedes noch so kleine Detail zählt, um im Wettkampf schneller zu sein. Sogar mit ihrer Frisur experimentierte Reusser und ihr Team, um den Luftwiderstand zu minimieren und die Kühlung zu verbessern. «Ich habe sehr dicke Haare. Unter dem Helm ist es wie eine Mütze, die zusätzliche Wärme erzeugt», erklärt sie. Deshalb hat sie ihre Haare so geflochten, dass dazwischen «Lüftungskanäle» entstehen, und sie hat die Haare knapp unterhalb der Helmkante kürzer geschnitten.
Kompromisslos ist sie, wenn es darum geht, noch etwas schneller zu werden. Doch die Haare sind nur ein kleiner Faktor von vielen, die passen müssen, um schnell zu sein. Nationaltrainer Edi Telser betont die Bedeutung dieser Feinheiten: «Das grosse Ziel ist, schneller zu werden. Dafür sind wir hier.»
Du kannst ihm Zeitfahren nicht mit den Besten mithalten, wenn du dieses Tüfteln nicht mitmachst.
Und Sportwissenschaftler Julien Bossens fügt hinzu: «Wir benötigen Daten, um fundierte Entscheidungen zu treffen. Auf diesem Level reicht es nicht, nur nach Gefühl oder visuell zu arbeiten.»
Sekunden, die über Sieg und Niederlage entscheiden
Gerade beim Zeitfahren ist das Minimieren des Luftwiderstands besonders wichtig. Anders als in Strassenrennen, bei denen Radfahrer im Windschatten fahren können, muss der Zeitfahrer den gesamten Luftwiderstand selbst bewältigen. «Du kannst ihm Zeitfahren nicht mit den Besten mithalten, wenn du dieses Tüfteln nicht mitmachst», stellt Marlen Reusser klar. «Du kannst noch so schnell sein: wenn du nicht richtig auf dem Velo sitzt und das richtige Material hast, dann hast du einfach keine Chance.»
Die Tests im Windkanal sind enorm aufwendig, anstrengend und zeitraubend. Aber sie lohnen sich. Allein durch eine optimale Sitzposition kann Reusser in einem 40-minütigen Wettkampf schnell 15 Sekunden gewinnen. Bei der Silbermedaille in Tokyo hatte Reusser nur sechs Sekunden Vorsprung auf Platz drei. Mit 15 Sekunden mehr hätte es nur zu Platz vier gereicht.
Wissenschaft durchdringt Spitzensport immer stärker
Die Beispiele von Mujinga Kambundji und Marlen Reusser zeigen eindrucksvoll, wie sehr die Wissenschaft den modernen Spitzensport prägt. Doch es bleibt ein schmaler Grat zwischen der Verschiebung von Grenzen und der potenziellen Überforderung der Athletinnen.
Die perfekte Abstimmung von Wissenschaft, Körper und Geist ist entscheidend, um im Wettkampf die bestmögliche Leistung abzurufen und gleichzeitig die Gesundheit der Athleten zu bewahren.