Einfach nur Kind sein. Im Schoss der Familie Geborgenheit finden und die Jugendjahre unbekümmert geniessen können. Für viele Heranwachsende in der Schweiz Normalität.
Unter «normal» verstehen tausende Gleichaltrige aber etwas völlig anderes: Geschätzt jedes achte Kind zwischen 10 und 15 Jahren übernimmt Pflege- und Betreuungsaufgaben für ein krankes oder hilfsbedürftiges Familienmitglied.
Sie sind Young Carers, «junge Pflegende». Wie Joël und Chiara, die mit ihrer Geschichte im SRF-Gesundheitsmagazin «Puls» zu Wort kommen.
Freude am Helfen
Joël ist 18. Bei der täglichen Betreuung und Pflege seiner beiden Brüder hilft er mit, seit er ein kleiner Junge war. Eine Aufgabe, die ihm seit jeher Freude bereitet hat – die nicht einmal vom Windelwechseln nachhaltig getrübt wurde. «Das habe ich jetzt nicht mega ungern gemacht, aber es hat halt ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen.»
Alain und Oliver haben das Down-Syndrom. Dem Windelalter sind beide entwachsen, die Hilfe ihres Bruders schätzen sie aber unverändert sehr.
Dass er sie ins Bett bringt, findet Oliver vergnügt lachend «gut!». Was Joël ebenfalls schmunzelnd mit «Gut, gäll? Ja hoffentlich!» und einem kleinen Knuff quittiert. Brüder halt.
Früh überfordert
Als Kind in der Familie eine wichtige Unterstützungsrolle einnehmen. Das musste auch Chiara schon in jungen Jahren. Eine Aufgabe, die sie nicht freiwillig übernommen hatte.
Als sie zehn Jahre alt war, erkrankte ihr Vater, litt an wahnhaften Störungen. Der Familienalltag war geprägt durch Unverständnis, Streit, Überforderung.
Obwohl erst zehnjährig, versuchte Chiara zwischen den Eltern zu vermitteln. Bemühte sich, den oft apathischen Vater zu aktivieren, die Mutter zu entlasten. «Ich habe vor allem emotionalen Support gemacht, probiert zuzuhören und Probleme zu lösen. Obwohl das ja eigentlich nicht meine Aufgabe war.»
Und sie kümmerte sich um die kleine Schwester, kochte, half bei den Hausaufgaben. «Niemand hat mir gesagt, dass ich das machen müsse. Aber ich habe für mich das Gefühl entwickelt, das zu müssen. Alles zusammenhalten zu müssen. Stark sein zu müssen.»
Einfach auch «nicht funktionieren»? Für Chiara keine Option.
Young Carer wie die heute 20-jährige Chiara übernehmen ihre Unterstützungsrolle, weil Alternativen fehlen. Als Kinder wachsen sie in die Rolle hinein, empfinden sie als normal.
So auch Joël. Er ist mit der Verantwortung aufgewachsen. Sah, dass es seine Hilfe brauchte, weil die Eltern nicht alles übernehmen konnten. «Ich gehöre voll zur Familie und fühle mich auch ein bisschen verpflichtet, zu helfen. Aber ich werde überhaupt nicht gezwungen», betont der 18-Jährige.
Die Betreuung des 20-jährigen Alain und bald 14-jährigen Olivier nimmt viel Zeit in Anspruch. Für die berufstätigen und vielseitig engagierten Eltern ist Joëls Hilfe im Alltag nicht mehr wegzudenken – und doch plagt sie manchmal etwas das schlechte Gewissen. «Er könnte die Zeit ja auch für sich nutzen und etwas abmachen», meint die Mutter.
Joël relativiert: «Es stört mich nicht gross, wenn ich nicht immer mit den Kollegen unterwegs sein kann. Mir ist halt die Familie sehr wichtig, das hat Vorrang.» Deshalb investiert er seine wenige Freizeit neben Mediamatikerlehre und Berufsmatura hier.
Den Spagat zwischen den verschiedenen Aufgaben schafft Joël auch, weil er weiss, dass er die Verantwortung für die Betreuung seiner beiden Brüder nicht alleine trägt.
Auf einen derartigen Familienzusammenhalt konnte Chiara als Kind nicht zählen. Über die psychische Krankheit des Vaters sprach man nicht. Jeder versuchte auf seine Weise, mit der Situation fertig zu werden. Mit zehn war Chiara mit ihren Ängsten alleine: «Ich habe mich nicht getraut, irgendjemandem davon zu erzählen, hatte das Gefühl, dass mir ja eh niemand glaubt. Und eine Zeitlang dachte ich sogar, dass unsere Situation zu Hause normal sei.» Bis sie Jahre später sah, wie andere Familien sind.
Als Teenie zog sich Chiara immer mehr zurück, frass alle Sorgen in sich hinein. «Meine Noten wurden immer schlechter. Ich wurde immer ruhiger.» Bis es irgendwann nicht mehr ging. «Als im Unterricht Witze über die Psychiatrie gemacht wurden, bin ich plötzlich in Tränen ausgebrochen. Das hat meine ganze Fassade zerstört.»
Beim Schulsozialarbeiter konnte sie zum ersten Mal mit jemandem über die Krankheit des Vaters und ihre Unterstützungsrolle zu Hause sprechen. Vier Jahre lang hatte Chiara geschwiegen – aus Scham und Angst vor negativen Reaktionen.
Nun fiel ihr ein Stein vom Herzen. Dieses Gefühl, nicht mehr ganz auf sich alleine gestellt zu sein: «Es war eine riesige Erleichterung. Ich kann es gar nicht beschreiben!»
Eine Seelennot, die Joël nie erleben musste. Über die Behinderung seiner Brüder wird seit jeher offen gesprochen, in seiner Rolle als Young Carer wurde er von den Eltern stets unterstützt.
Das Leben mit zwei Brüdern mit Down-Syndrom mache Spass, sei manchmal aber auch anstrengend. Seiner Unterstützerrolle gewinnt Joël jedoch vor allem Positives ab: «Ich gewissen Bereichen habe ich ein fortschrittlicheres Denken und bin in gewissen Dingen reifer als meine Kollegen.» Das werde ihm im Beruf oder im späteren Leben sicher eine grosse Hilfe sein.
Nach dem Zusammenbruch in der Schule lernte Chiara, sich zu Hause emotional besser abzugrenzen. Schämte sich nicht mehr, mit anderen über ihre Situation zu sprechen. Heute lebt ihr Vater nicht mehr zu Hause.
Trotzdem lässt sie das Erlebte noch nicht los. «Ich hätte mir gewünscht, dass man offener über das Thema spricht.» Daraus ein Tabu zu machen, nütze niemandem. «Da leidet nicht nur die erkrankte Person, sondern auch ihr gesamtes Umfeld.»