Gibi Klein sitzt vor ihrem Bett. Ihr Zimmer ist abgedunkelt, die Lichterkette leuchtet schummrig. Zwei Mikrofone verdecken ihr Gesicht. Noch bevor die Youtuberin ein Wort an ihre 3.76 Millionen Abonnentinnen richtet, reibt sie ihre Finger aneinander. Es raschelt.
Dann flüstert die New Yorkerin sanft ihre Begrüssung ins Mik, streicht abwechselnd mit Pinseln, Fingern und Folie über die Klangverstärker – und bringt damit Millionen von Menschen zum Einschlafen.
Kribbeln im ganzen Körper
Gibi ist ASMRtist. Eine Youtuberin, die sich darauf spezialisiert hat, Menschen mit Geräuschen und Bewegungen zu beruhigen. ASMR steht für «Autonomous Sensory Meridian Response». Ein Begriff, der ein Gefühl beschreibt, das manche als Reaktion auf akustische oder optische Trigger erleben. Ein Begriff, der nicht mehr aus den Sozialen Medien wegzudenken ist.
ASMR. Es beginnt als Kribbeln am Scheitel und breitet sich über die Wirbelsäule und die Arme auf den restlichen Körper aus, sagen die Menschen, die es erleben. Es sei mit nichts vergleichbar. In den meisten Youtube-Kommentaren fällt das Wort «Entspannung». Manche beschreiben es sogar als «Gehirnorgasmus».
Auch Forschende interessieren sich mehr und mehr dafür, was genau im Körper von Menschen passiert, die sogenannte Tingles erleben - das englische Wort für Kribbeln, mit dem ASMR-Betroffene das Phänomen bezeichnen.
Allerdings ist das nicht einfach: Einerseits verspürt nicht jeder Mensch ASMR. Andererseits sind die Trigger, die das Gefühl auslösen, sehr unterschiedlich.
Und doch: 2018 haben Psychologinnen der University of Sussex 280 Probandinnen untersucht. Während eines ASMR-Videos sank ihre Herzfrequenz deutlich. Ein Anzeichen für Entspannung. Allerdings schwitzten die Teilnehmenden auch mehr, was auf eine erhöhte emotionale Erregung hindeutete.
Eine Kombination, die die Forschenden erstaunte, wie Studienleiterin Giulia Poerio im Studien-Abstract schreibt. «ASMR scheint gleichzeitig zu aktivieren und zu beruhigen. Das ist auch bei anderen komplexen emotionalen Erfahrungen wie Nostalgie oder Ehrfurcht der Fall.»
Das Belohnungszentrum wird aktiviert
Neurologen der Shenandoah University schickten ihre Studienteilnehmenden ins MRT, um die Gehirnaktivität während eines ASMR-Videos zu messen. Die Aufgabe: Knopf drücken, wenns kribbelt. Dass die Videos das Belohnungszentrum aktivierte, war für Studienleiter Craig Richard wenig überraschend, wie er in einem Interview mit «Sciencefocus» sagte.
Dass der präfrontale Kortex aufleuchtete, der für die Verarbeitung von sozialem Verhalten zuständig ist, dagegen schon. «Wir wissen, dass Tiere soziale Verhaltensweisen wie Putzen oder die Pflege von Säuglingen nutzen, um soziale Bindungen aufzubauen. Diese Verhaltensweisen ähneln dem, was in ASMR-Videos zu sehen ist: langsame Bewegungen, sanfte Berührungen, liebevolle Blicke», so Craig.
Oxytocin-Ausschüttung durch virtuelles Pflegen
ASMR könnte also eine Variante davon sein – eine Art virtuelles Pflegen. Das signalisiere dem Gehirn, dass es sich auf Vertrauen einstellen kann, so der Neurologe. Das wiederum aktiviert die Ausschüttung von Oxytocin: das Bindungs- und Kuschelhormon.
Aber warum kribbelt es nur bei manchen? Ende 2020 stellte eine Gruppe von US-Forschenden fest, dass Menschen mit ASMR schwächere Verbindungen im Ruhezustandsnetzwerk haben. Das ist eine Gruppe von Hirnregionen, die aktiviert werden, wenn wir ruhen und keinerlei Aufgaben nachgehen. Sprich: Menschen mit ASMR reagieren grundsätzlich schneller auf Reize als Menschen ohne ASMR. Abschliessend beantworten konnten die Forschenden die Frage aber nicht. Ein komplexes Kribbeln eben.