Am kommenden Auffahrtswochenende werden Reisende in den Süden wieder Nerven und Sitzfleisch brauchen: Denn Stau vor dem Gotthard-Tunnel ist so gut wie sicher. In der Verkehrsmanagement-Zentrale des Bundesamts für Strassen Astra in Emmenbrücke herrscht an solchen Tagen Hochbetrieb.
Dank über 5000 Kameras und mehreren hundert Messstellen haben Verkehrs-Operatoren wie Jean-Pierre Benguerel das Schweizer Autobahnnetz jederzeit im Blick. «Steht man vor dem Gotthard-Nordportal länger als eine Stunde, lohnt sich für Reisende aus der Nordwestschweiz oder dem Raum Basel bereits die Umfahrung über die San-Bernardino-Route», so Benguerel.
39'863 Staustunden
Über Verkehrsmeldungen und digitale Anzeigetafeln versuchen er und sein Team, die anrollende Blechlawine umzuleiten. An Feiertagen und über die Sommerferienmonate meist vergebens.
Die Autoschlange vor dem Gotthard ist sicher der bekannteste Stau der Schweiz. Der Schlimmste ist er aber nicht. Rund um die grossen Städte steht der Verkehr fast jeden Arbeitstag still. 39'863 Staustunden verzeichnete das Astra 2022 auf dem Nationalstrassennetz. Nur ein Bruchteil der Staus entsteht dabei wegen Unfällen oder Baustellen. Die Überlastung der bestehenden Strasseninfrastruktur ist für rund 85 Prozent des Stillstands verantwortlich. Oft auch sogenannter Phantomstau.
Phantomstau entsteht bei hohem Verkehrsaufkommen wie aus dem Nichts. Es braucht einen einzigen Autofahrenden, der abrupt die Spur wechselt, zu hart auf die Bremse tritt oder zu dicht auffährt. «Durch die Bremsmanöver der Nachfolgenden kommt es zu einer sogenannten Stauwelle, die sich mit einer Geschwindigkeit von vierzig bis hundert Stundenkilometern zurückbewegt», erklärt Verkehrsingenieur Kevin Riehl.
Das Stauexperiment
Mitte März führt der ETH-Forscher gemeinsam mit SRF ein Stauexperiment durch. Ein gutes Dutzend Freiwillige fahren dafür auf einer TCS-Teststrecke im Kreis und versuchen, Tempo und Abstand zu halten. Eine einfache Aufgabe würde man denken. Aber schon nach ein paar Minuten steht die Autokolonne praktisch still.
Seit einigen Jahren zeichnet sich nun aber eine Lösung im Kampf gegen den Stau aus dem Nichts ab. «Die Forschung hat bewiesen, dass moderne Fahrassistenzsysteme – wie beispielsweise automatisierte Abstandshalter – dabei helfen, Phantomstaus drastisch zu reduzieren», erklärt Riehl.
Auch beim SRF-Experiment bleibt der Stau aus, nachdem einzelne Teilnehmende ihre Fahrhelfer eingeschaltet haben. «Es reicht bereits, wenn fünf bis zehn Prozent der Verkehrsteilnehmenden mit modernen Fahrassistenzsystemen unterwegs sind, um einen deutlichen Effekt zu sehen.»
Die Lösung könnte auch ein Problem sein
Gehört Stau deshalb bald der Vergangenheit an? Sigrid Pirkelbauer, die Leiterin des Verkehrs- und Innovationsmanagements beim Astra, verfolgt die Entwicklung mit grossem Interesse. Weil die Autos der Zukunft harmonischer fahren und enger aufschliessen könnten, werde wohl mehr Platz auf den Strassen entstehen, sagt sie. Auch gebe es dank Robotaxis und Sharing-Modellen in Zukunft weniger Gründe, ein eigenes Auto zu besitzen.
Das Risiko besteht, dass es zukünftig noch mehr Fahrzeuge gibt, weil dann vielleicht auch Kinder oder Jugendliche ein Auto haben werden.
Das Aufkommen von selbstfahrenden Autos könne aber auch den gegenteiligen Effekt haben. «Das Risiko besteht, dass es zukünftig noch mehr Fahrzeuge gibt, weil dann vielleicht auch Kinder oder Jugendliche ein Auto haben werden», gibt Pirkelbauer zu Bedenken. «Und weil die Fahrzeuge zum Parken selbständig nach Hause fahren, könnte durch diese Leerfahrten der Verkehr sogar noch zunehmen.»
Flaschenhals Urnerland
Heute bleibt dem Team in der Verkehrsmanagementzentrale oft nur das Umschalten auf Tempo 80 übrig, um den Verkehr im Fluss zu halten: «Bei ungefähr achtzig Stundenkilometern fahren alle ziemlich gleichmässig», erklärt Verkehrsoperator Jean-Pierre Benguerel. «Weil auch der Schwerverkehr mit diesem Tempo unterwegs ist, kommt es zu weniger Überholmanövern, und die wiederum sind eine der Hauptgründe für Stau.»
Auch auf den Zufahrtsstrecken zum Gotthard wird bei hohem Verkehrsaufkommen auf Tempo 80 heruntergedrosselt. Wenn an Feiertagen und über die Sommerferienmonate die Blechlawine anrollt, hilft aber auch das nicht mehr viel. «Das Urnerland ist ein Flaschenhals», sagt der Chef der Urner Verkehrspolizei Nick Pizzi. «Alle Zufahrtsstrassen verengen sich im Gotthard-Tunnel auf eine einzige Spur. Wenn bei offenen Pässen im Seelisberg mehr als tausend und auf der Axenstrasse mehr als fünfhundert Autos pro Stunde anfahren, wissen meine Mitarbeitenden: Jetzt gibt’s Stau.»