«Das Schlimmste ist das Ungewisse, deshalb kannst du nichts planen», sagt Georgin Bonifazi, Bauer im Bündner Bergdorf Brienz/Brinzauls. Die Zukunft seines Dorfes ist in der Schwebe, seit sich in den letzten Jahren der Bergrutsch beschleunigt hat, auf mehr als einen Meter pro Jahr. Sogar eine Umsiedlung des Dorfes liegt im Bereich des Möglichen.
Die Gemeinde Albula/Alvra, zu der Brienz gehört, hat bereits eine Studie dazu erstellt. Danach müssten 72 ständige Einwohnerinnen und Einwohner sowie rund 50 Gäste wegziehen – im Extremfall wären sogar gegen 300 Wohnungen betroffen. Eine Umsiedlungsaktion in einem Ausmass, das es in der Schweiz noch nie gegeben hat.
Fallbeispiel Umsiedlung in Weggis
Anschauungsunterricht gibt das Gebiet «Horlaui» in der Luzerner Gemeinde Weggis. Dort kam es 2014 zur bisher grössten präventiven Umsiedlungsaktion wegen Umweltgefahren.
Fünf Wohnhäuser wurden geräumt und abgerissen. Die zehn Bewohnerinnen und Bewohner mussten sich eine neue Bleibe suchen. Für die Betroffenen ein traumatisches Erlebnis. Georg Wieser, der in der Horlaui aufgewachsen ist, machte sich damals grosse Sorgen um seinen Vater, der nach rund 50 Jahren sein selbst aufgebautes Haus verlassen musste: «Es hat ihn schwer getroffen und ich befürchtete, dass er sich etwas antun könnte.»
Weggis liegt am Fuss der Rigi und war in der Vergangenheit immer wieder von Felsstürzen und Hangmuren betroffen. Doch die Räumung der fünf Häuser war ein Präzedenzfall. Als Gutachten zeigten, dass die Felsen jederzeit herabstürzen und die Menschen in den Häusern tödlich verletzen könnten, wurde die Räumung dringlich.
«Wir waren als Gemeinde gezwungen, sofort zu handeln und konnten nicht mehr warten», sagt Baptist Lottenbach, der sich noch heute an die schwierigen Gespräche erinnert, die er damals als Gemeindeverantwortlicher mit den Betroffenen führen musste.
Rettung von Brienz: «Keine Frage des Geldes»?
Doch für das Dorf Brienz setzen Gemeinde, Kanton und auch der Bund alles daran, dass es nicht zu einer Umsiedlung kommt. Rund 28 Millionen Franken wurden bisher eingesetzt für einen Sondierstollen, Überwachungsanlagen und geologische Untersuchungen.
Das Ganze ist keine Frage des Geldes.
Im Dezember 2022 hat der grosse Rat des Kantons Graubünden weitere 40 Millionen bewilligt zum Bau eines Entwässerungsstollens, der den Rutsch verlangsamen soll. Der Beschluss war mit 110:0 einstimmig. Der damalige Bündner Baudirektor Mario Cavigelli sagte zuvor, man müsse alles Menschenmögliche versuchen, das Dorf zu retten. «Das Ganze ist keine Frage des Geldes», sagte er.
Doch ist das so? Sind die Geldmittel unbegrenzt, um Siedlungen wie Brienz vor Naturgefahren zu schützen?
Nicht aus der Perspektive des Bundes, der Schutzmassnahmen vor Naturgefahren mit bis zu 45 Prozent mitfinanziert. In seinen Richtlinien zum Schutz vor Massenbewegungsgefahren heisst es: «Die Kosten der Schutzmassnahmen sind mit dem erwarteten Schadenpotenzial zu vergleichen.» Kein Bundesgeld gibt es laut Richtlinien für «unwirtschaftliche oder unzweckmässige Schutzprojekte».
Millionen investiert, um noch mehr Millionen zu schützen
Auch dazu findet sich in Weggis am Rigi ein Beispiel. Im Gebiet «Horlaui» wurden fünf Häuser geräumt und abgerissen. Schutzmassnahmen gegen den drohenden Felssturz wurden hier geprüft, aber aufgrund der engen räumlichen Verhältnisse und hohen Kosten verworfen.
Man bekommt von Bund und Kanton nur Subventionen, wenn sich die Investitionen rechnen.
Nur wenige hundert Meter entfernt, im Gebiet Laugneri, wurden hingegen zehn Millionen Franken für Schutzbauten aufgewendet, zu je einem Drittel mitfinanziert von Bund und Kanton. Hier ergaben Studien: Die Rettung war nicht nur technisch machbar, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Gemeinderat Lottenbach: «Man bekommt von Bund und Kanton nur Subventionen, wenn sich die Investitionen rechnen.»
Die Liegenschaften unter den gebauten Schutzdämmen seien deutlich wertvoller gewesen als die Schutzbauten. Zudem wurde berechnet, dass durch die Massnahmen eine Schutzwirkung von 96 Prozent erreicht werde. Sowohl die Schutzwirkung als auch die Risikoberechnung sind zwei wichtige Faktoren, die für die Realisation von Schutzbauten herangezogen werden.
Schadenpotenzial Rutschung Brienz: 177 Millionen Franken
Was bedeutet das für Brienz? Auch hier werden entsprechende Berechnungen angestellt: Laut einer Risikoanalyse beträgt das direkte Schadenpotenzial durch die Rutschung des Dorfes 177 Millionen Franken. Darunter fällt zum Beispiel der Wert sämtlicher Gebäude (76.8 Mio.), der Strassen (22.2 Mio.), Nutzflächen (19.0 Mio.) oder der Wasser- und Abwasserleitungen (8.7 Mio.).
Mit welcher Wahrscheinlichkeit aber tritt der Schaden überhaupt ein? Und wie gut wirken die Schutzmassnahmen? Die Antwort im Fall Brienz ist besonders schwierig. Geologe Hugo Raetzo, der beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) das Dossier Brienz betreut, sagt: «Die Berechnung in Rutschgebieten ist eine grosse Herausforderung, viel komplexer als bei Wasser- oder Lawinenprozessen.»
Schwierig sei es auch, abzuschätzen, welche langfristige Schutzwirkung Massnahmen hätten, wie der jetzt beschlossene Entwässerungsstollen, auch wenn erste Messresultate auf eine Beruhigung der Rutschung deuteten.
Das schlimmste aller Szenarien
Dazu kommt: Es droht auch ein Bergsturz. Denn nicht nur das Dorf selbst, auch grosse Hangbereiche oberhalb von Brienz sind instabil und in Bewegung. Stürzen diese Massen hinunter, würde das nicht nur Brienz betreffen, sondern weitere Gebiete der Gemeinde Albula/Alvra. Es ist das schlimmste aller Szenarien.
Wir gehen davon aus, dass man einige Tage oder Wochen Vorlaufzeit hätte für eine Evakuierung.
Eine akute Gefahr bestehe derzeit nicht, beruhigt Christian Wilhelm, Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Kanton Graubünden: «Wir gehen davon aus, dass sich das ankündigt und man einige Tage oder Wochen Vorlaufzeit hätte für eine Evakuierung.»
Doch für die Berechnung, ob sich die Kosten für Schutzmassnahmen lohnen, sind diese Faktoren eine zusätzliche Herausforderung. Es gebe keine Statistik, wie zum Beispiel bei Lawinen, die periodisch immer wieder auftreten. Man habe das sonst in der Schweiz übliche Verfahren deshalb für Brienz angepasst, sagt Wilhelm. So werden laufend die neuesten Erkenntnisse aus den geologischen Gutachten einbezogen.
Finanzierung derzeit im grünen Bereich
Nach der letzten Evaluation vom Sommer 2022 sieht es für die Brienzer Bevölkerung gut aus. Mit den insgesamt 68 Millionen Franken, die derzeit für Schutzmassnahmen eingeplant sind, liegt man immer noch im grünen Bereich. Eine kombinierte Risikoanalyse für die Bereiche «Berg» und «Dorf» soll laut Christian Wilhelm bis im Sommer 2023 vorliegen.
Im Fall von Brienz ist der sozio-politische Aspekt sehr wichtig.
Doch man könne den Fall Brienz nicht nur rechnerisch betrachten, sagt Bafu-Geologe Hugo Raetzo. Es gehe hier auch um ein historisches Dorf, mit einer langen Geschichte und einer der Heimat verbundenen Bevölkerung. Gesuche für Beiträge würden auch nach ökologischen und sozio-politischen Kriterien beurteilt. «Und im Fall von Brienz ist dieser sozio-politische Aspekt sehr wichtig», sagt Raetzo.
So gesehen scheint es derzeit also tatsächlich keine Frage des Geldes zu sein, das Bündner Bergdorf zu retten. Offen bleibt die Frage, ob auch die Natur mitspielt und sich die rutschenden Massen durch die Stollen beruhigen lassen.