Bei jedem Schritt hüpft es. Rechts und links stieben kleine Heuschrecken weg, während wir durch eine feuchte Riedwiese gehen. Wir sind unterwegs im Toggenburg, einige hundert Höhenmeter oberhalb von Ebnat-Kappel.
Voran geht Bruno Keist, der ehemalige Dorfarzt, in der einen Hand ein Fangnetz, in der anderen einen Feldstecher. Hinter ihm geht seine Frau, Lotti Keist. Zwei- bis dreimal pro Woche sind sie hier unterwegs, immer zu zweit. Und das seit mehr als 30 Jahren.
Nur wenige kennen die Heuschrecken so gut wie sie. Sie haben sogar eine neue Art entdeckt, die Schweizer Goldschrecke (Podismopsis Keisti).
Doch unterdessen ist klar geworden, dass die gleiche Art auch in Montenegro und in den Karpaten schon vorher entdeckt worden ist. Podismopsis Keisti wird deshalb aus den Artenlisten der Insektenkundler wieder rausfliegen.
Am Gezirpe erkennen
«Jetzt hört man eine andere Art, die gewöhnliche Strauchschrecke», sagt Bruno Keist und lauscht in sein Ultraschallgerät. Es transponiert die Töne der Heuschrecken in den für uns hörbaren Bereich herunter. «Sobald es Abend wird oder schattig wie hier, beginnen sie mit diesem regelmässigen Zirpen.»
Die verschiedenen Heuschrecken zirpen zu unterschiedlichen Tageszeiten und je nach Temperatur zirpen sie unterschiedlich schnell. Keists kennen das Zirpen der meisten Arten auswendig.
«Dieser Wecker da, das ist zum Beispiel der Bunte Grashüpfer», sagt Lotti Keist. «Und dieses Tsrrrrrr – das ist die Zwitscherschrecke.» Doch nun hat die Insektenkennerin mit dem braunen Sonnenhut noch was Besseres entdeckt: Gebirgsschrecken, die sich paaren.
«Wunderschön sind die, so richtige Bilderbuchheuschrecken», sagt Lotti Keist. «Die zirpen überhaupt nicht, die bewegen nur die Beine, aber man hört nichts.»
Wie gross ist der Rückgang?
Zwei Jahre ist es her, seit eine Studie aus dem deutschen Krefeld weltweit für Schlagzeilen sorgte. Innert 27 Jahren waren dort 75 Prozent der Masse aller Insekten verschwunden, und zwar aus den Naturschutzgebieten. Seither ist das Insektensterben ein grosses Thema.
In Bayern haben 1,7 Millionen Menschen ein Volksbegehren unterschrieben zum Schutz der Bienen. Das gab es noch nie. In der Schweiz gibt es zwar keine vergleichbare Studie, in der die Menge der Insekten über längere Zeit in Gramm und Kilogramm gewogen wurde.
Dafür gibt es einige Insektenkundler, die schon sehr lange und regelmässig in der Natur unterwegs sind und den Wandel dokumentiert haben. Bruno Keist ist einer von ihnen. Seit 60 Jahren beobachtet er Vögel und seit mehr als 30 Jahren schon dokumentieren er und seine Frau die Entwicklung der Insektenwelt im Toggenburg. Sie haben also einen sehr langen Blick zurück.
Heuschrecken-Massaker beim Mähen
Mehr als ein Dutzend verschiedener Heuschreckenarten haben gesungen auf der naturnahen Wiese oberhalb von Ebnat-Kappel. Jetzt stehen wir 400 Meter weiter unten, am Dorfrand und man hört fast gar nichts. Nach längerem Suchen entdecken die beiden Insektenkundler doch noch die drei häufigsten Arten. Alle anderen aber sind verschwunden: «Vor 30 Jahren haben wir hier unten genau die gleichen Arten vorgefunden wie weiter oben», sagt Bruno Keist.
Wie erklärt er diesen krassen Wandel? «Die Wiesen werden viel intensiver genutzt», sagt Keist. Sie würden früher und öfter geschnitten. Schon im Mai komme der Kreiselmäher und schlägt – anders als der Balkenmäher früher – beim Grasschneiden etwa 80 Prozent der Kleinlebewesen tot.
Die wenigen überlebenden Heuschrecken, Schmetterlingsraupen und Käfer verkriechen sich ins trocknende Gras. «Am Abend werden sie dann eingesammelt und mit dem Heu in riesige Ballen gepresst, umwickelt mit undurchdringlichem Plastik – radibutz, alles weg», sagt Lotti Keist.
Dünger macht Wiese zur Ökowüste
Zu dieser mechanischen Gefahr für die Wieseninsekten kommt das Güllen und der Kunstdünger dazu. «Kunstdünger haben wir sogar in Naturschutzgebieten gefunden, wo das Düngen verboten ist», sagt Bruno Keist.
Die Düngung hat zur Folge, dass die Pflanzen stärker wachsen. Allerdings verdrängen einige wenige Gräser und Blütenpflanzen dann alle anderen. Im Frühling leuchtet ein gelbes Meer von Löwenzahnblüten, aber fast alle anderen Wiesenblumen sind verschwunden. Mit ihnen die Insekten, die sich auf diese Pflanzen spezialisiert haben – um sie zu fressen, ihren Nektar zu sammeln oder sich in ihnen zu verstecken.
Viele Insekten haben sich im Verlauf der Evolution stark spezialisiert. Die Goldene Schneckenhausbiene etwa baut die Brutkammer für ihre Nachkommen in das leere Haus einer Schnecke.
«Bei einer stark gedüngten Wiese wachsen die Pflanzen so dicht, dass kaum mehr Sonne an den Boden kommt», sagt Bruno Keist. So wird es zu kalt und zu nass für viele Insekten, die auf dem Boden leben.
Pestizide töten Insektenlarven
Ist vom Insektensterben die Rede, geht es meist um die Pestizide. «Hier oben auf den Wiesen spielen Insektizide aber kaum eine Rolle», sagt Bruno Keist. «Die werden hier kaum eingesetzt.» Im Ackerbau aber und insbesondere im Obstbau kommen viele Insektizide zum Einsatz.
Verschiedene dieser Stoffe mussten unterdessen aus dem Verkehr gezogen werden, weil sie nicht nur die Insekten töten, die Kirschen, Äpfel oder Kartoffeln fressen wollen, sondern auch den Bienen, Hummeln und Wildbienen geschadet haben.
Zudem wird ein beträchtlicher Teil der Pestizide aus den Böden ausgewaschen und gelangt so in Bäche, Teiche und Tümpel. Insektenarten wie Libellen, Köcherfliegen oder Eintagsfliegen entwickeln sich aber im Wasser und werden deshalb auch weit weg von den Feldern stark beeinträchtigt durch einen Cocktail verschiedener Spritzmittel. In verschiedenen Bächen sind die Larven der Köcherfliegen unterdessen fast vollständig verschwunden.
Bauern? «Tragen nicht die alleinige Schuld»
Im Wald und in der Stadt ist die Zahl der Insekten in den letzten drei Jahrzehnten kaum zurückgegangen. Gemäss Aussagen des renommierten deutschen Schmetterlingsforschers Josef Reichholf ist die Zahl der Schmetterlinge in landwirtschaftlichen Gebieten um 75 Prozent zurückgegangen.
Trotzdem wollen Bruno und Lotti Keist die Schuld nicht den Bauern in die Schuhe schieben. «Jeder muss schauen, wie er überleben kann», sagt Bruno Keist. «Wenn man sieht, wie viele Auflagen die Bauern heute erfüllen müssen, dann versteht man, warum sie so wirtschaften.» Lotti Keist sieht das genauso. Die ganze Gesellschaft müsse die Verantwortung tragen für das Insektensterben, zumal jeder mit seinem Konsum dazu beitrage.
Auch die Ausdehnung der Siedlungen, der Bau von Industriezonen und Strassen wirken sich negativ aus auf die Lebensräume von Insekten. Das Teeren von kleineren Strassen etwa hat Folgen für die Insekten, die für viele unerwartet sind.
Für Laufkäfer und andere Insektenarten, die sich am Boden bewegen, werden diese Strassen zu Barrieren, die sie kaum mehr überwinden, weil es für sie zu gefährlich ist.
Kunstlicht, ein schlechter Kuppler
Auch Strassenlaternen können sich verhängnisvoll auswirken auf die Insekten. 80 Prozent der Insektenarten in der Schweiz sind in der Nacht unterwegs. Sie lassen sich vom Licht ablenken, in die Irre führen oder sie werden gar gefressen, wenn sie unbedacht um die Laternen schwirren.
Auch die seltenen Glühwürmchen leiden unter dem Kunstlicht. Die Männchen weichen direktem Licht aus. Weibchen, die sich zufällig im Schein einer Strassenlampe platziert haben und dort auf Männchen warten, sterben deshalb meist unverpaart, nachdem sie zwei Wochen vergebens unter der Laterne geleuchtet haben.
Es gibt auch Arten, die zunehmen
«Schau, ein Zitronenfalter!», ruft Lotti Keist ihrem Mann zu. Ein knallgelber Schmetterling flattert über die Wiese. «Schon der zweite heute», sagt Bruno Keist und macht sich eine Notiz ins Heft. Es gibt auch Insekten, die nicht seltener werden, sondern sogar häufiger.
«Der Zitronenfalter gehört dazu», sagt Keist. Die Klimaerwärmung wirkt sich positiv aus auf verschiedene Schmetterlingsarten. Es gibt einige Arten, die neu zugewandert sind. Und es gibt solche, die ihren Lebensraum ausgedehnt haben. «Die Feldgrille zum Beispiel», sagt Bruno Keist. «Die gab es noch vor 30 Jahren hier oben nicht, heute finden wir sie schon weit über 1000 Meter über Meer.»
Zudem gibt es starke Schwankungen zwischen den Jahren. «Je nach Wetter im Vorjahr gibt's auf einmal ganz viele Heugümper und dann plötzlich wieder fast keine mehr», sagt Lotti Keist. «Das macht es nicht einfacher, abzuschätzen, wie sich die Bestände entwickeln».
60 Prozent sind bedroht
Insgesamt ist klar, wohin die Reise geht. Die Aufzeichnungen von Lotti und Bruno Keist, wie auch die vieler Insektenkundler der Schweiz, zeigen ein düsteres Bild: 60 Prozent aller untersuchten Insekten gelten als bedroht und stehen deshalb auf der roten Liste.
Heute kann ich Fenster und Türen offen lassen, es kommt kaum eine Fliege rein.
Die Zahlen aus dem deutschen Krefeld – eine 75-prozentige Abnahme der Insektenmasse in nur knapp 30 Jahren – verwunderte die beiden Insektenkundler aus dem Toggenburg nicht. «Wenn ich früher bei uns am Dorfrand aus Versehen über Nacht das Fenster offen und das Licht brennen liess, dann war am anderen Morgen alles schwarz, voller Mücken, Käfer und Heuschrecken», sagt Lotti Keist. «Heute kann ich Fenster und Türen offen lassen, es kommt kaum eine Fliege rein.»
Ihr Mann doppelt nach: «Fledermäuse sieht man auch kaum mehr – früher hatten wir ständig jagende Zwergfledermäuse ums Haus, heute sehen wir sie nur noch selten.» Das Verschwinden der Insekten wirkt sich also auch auf die anderen Tierarten aus, insbesondere die Insektenfresser natürlich.
Unbeirrt und konsequent
Trotz alledem wollen sich Bruno und Lotti Keist ihre Begeisterung für die Natur nicht vermiesen lassen. «Schon unsere Grosseltern sagten, früher sei alles besser gewesen», sagt Lotti Keist. «Ich will nicht in dieses Gejammer einstimmen, das Leben geht weiter.»
Ihr Mann nickt mit einem leisen Lächeln, nimmt den Feldstecher und schaut einem Grossen Schillerfalter nach.