- Am Calandamassiv wurde 2011 ein Wolfspaar entdeckt. Heute lebt dort rund ein Dutzend Wölfe. Dieses Jahr wurden acht Jungwölfe geboren.
- In der Region sorgen die Wölfe bei einigen für Freude, andere fürchten sich. Bauern machen sich Sorgen um Schafe und Rinder.
- Wildhüter fordern mehr Gelassenheit. Der Bündner Jagdinspektor will mehr Kompetenzen für die Kantone: Sie sollen selbst über einen Abschuss entscheiden dürfen.
- Für die Bevölkerung am Calanda bleibt der Wolf zwiespältig. Die Polarisierung, pro oder contra Wolf, nimmt zu.
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Ein warmer Herbsttag. Abgesehen von ordentlichen Steigungen und einigen schmalen Felstunnels ist er ziemlich unspektakulär, der Weg ins Wolfsgebiet.
Von Chur aus geht es erst nach Tamins und dann noch einmal 700 Meter weiter hoch, bis zum Kunkelspass auf gut 1300 Meter Höhe. Ein Waldweg, Nadelbäume, der Blick ins Tal und weiter hoch zu schroffen Felsen: Es sieht hier aus wie in vielen Schweizer Alpentälern.
Ein grosser Wurf an Wölfen
Doch etwas ist anders. Am Calandamassiv lebt rund ein Dutzend Wölfe. Das Elternpaar liess sich hier 2011 nieder. Die ersten Welpen kamen 2012 zur Welt. Seitdem gab es jedes Jahr Nachwuchs. Der Wurf in diesem Jahr war besonders gross: Acht Jungwölfe wurden 2017 am Calanda geboren.
Am Waldweg, den wir gerade hochwandern, kommen sie regelmässig vorbei. Der Förster und Jäger Ralph Manz führt. Er ist bei KORA, einem gemeinnützigen Verein mit Sitz in Bern, zuständig für das schweizweite Wolfsmonitoring.
Der Verein KORA erforscht – vor allem im Auftrag des Bundesamts für Umwelt – die Raubtiere Bär, Luchs und Wolf. Die Fachleute untersuchen deren Ökologie und Lebensweise und überwachen, wie sich ihre Populationen in der Schweiz entwickeln.
Beim Wolfsmonitoring hier im Calandagebiet hat Manz die Fotofallen mit aufgestellt und ausgewertet. Wo die Wölfe häufig unterwegs sind, kann er also ziemlich genau sagen.
Auf der Kotspur
Er bleibt stehen. Rechts am Wegrand liegt ein Haufen Kot, schon nicht mehr ganz frisch. Manz nimmt sich ein Holzstück und stochert darin herum. «Wolf oder Fuchs, das ist die Frage», sagt er.
Eigentlich ist der Haufen zu klein für einen Wolf. Allenfalls stammt er von einem jungen Tier. «Und in Wolfskot findet man normalerweise mehr Haare – Fell von der Beute, weil die Wölfe alles zusammen runterschlingen.»
Kot mitten auf den Weg zu setzen ist typisch für beide, Wolf und Fuchs. So markieren sie ihr Revier. Die Frage, wer’s nun war, bleibt offen. Doch alleine zu fragen «War’s ein Wolf?» ist schon aufregend.
Ein «unsichtbares» Tier
Die Chance vom Wolf nicht nur zu reden oder seinen Kot zu studieren, sondern auch einen zu sehen, ist verschwindend gering. Nicht nur, weil Wölfe gerne ihre Ruhe haben und vor allem in der Nacht unterwegs sind.
Das Streifgebiet des Wolfsrudels sei um die 350 Quadratkilometer gross, sagt Ralph Manz. Viel Platz für rund ein Dutzend Tiere. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, erfordert grosses Glück oder viel, viel Zeit. Manz hat hier schon einige Male Wölfe gesehen, aber immer nur einzelne Tiere, nie das ganze Rudel.
Der Wolf: ein Opportunist
Dass die Wölfe wieder in der Schweiz seien, sich hier niederlassen und vermehren, zeige: «Es passt ihnen hier.» Aber spricht das auch für eine intakte Natur? Das nicht gerade, findet Manz.
Der Natur insgesamt gehe es nicht besonders gut. Doch der Wolf sei ein Opportunist. Er könne mit vielen Situationen umgehen. Hauptsache, er habe genug Rückzugsgebiete und Futter.
Beides gibt es am Calanda. Die schroffen hohen Felsen sind für Menschen schwer zugänglich. Die Touren auf die Gipfel sind anspruchsvoll. Und: Der Wildbestand ist sehr hoch. Einen besseren Ort hätten sich Wölfin und Wolf kaum aussuchen können.
Ach, nur eine Gams
Manz greift zum Feldstecher. Vielleicht sieht man ja doch etwas, weiter oben, wo nicht einmal mehr die Legföhren wachsen und man freie Sicht auf karge Wiesen hat: «Ach, da laufen Gämsen.»
Das wiederum heisst: kaum Chancen auf den Wolf. Denn wäre er in der Nähe, würden die Gämsen nicht so seelenruhig äsen. Also wieder nichts. Kein Wolf in Sicht.
Der erste Calanda-Wolf
Claudio Spadin war im August 2011 der Erste, der einen der Calanda-Wölfe gesehen hat. Der Wildhüter arbeitet für das Bündner Amt für Jagd und Fischerei. «Das war ein spezieller Moment», sagt Spadin. Mitten im Wildschutzgebiet, relativ weit entfernt.
Zuerst hat dem Wildhüter keiner geglaubt. «Aber ich war mir sicher, das war etwas Hundeähnliches.» Am liebsten hätte er gleich im Wald einen Kollegen gefragt: «Sag, hast du das auch grade gesehen?» Aber da war keiner, Spadin war allein unterwegs.
Kurz darauf fanden die Wildhüter Wolfskot. Der DNA-Beweis war eindeutig. Erst wussten sie nur von einem Tier, aber bald war klar: Ein Paar hat sich niedergelassen.
Wolf-Nachwuchs – eine Sensation
2012 dann die Sensation: der erste Schweizer Wolfsnachwuchs. «Wir haben lange gebraucht, bis wir die Jungtiere nachweisen konnten», sagt der Jagd- und Fischereiinspektor Georg Brosi, Claudio Spadins Chef.
Die Wölfin versteckte ihre Jungen gut. «Wir haben sie aber auch bewusst in Ruhe gelassen», sagt Georg Brosi. Erst im Juli gab es die ersten Fotofallenbilder der Jungwölfe. Da waren sie schon einige Monate alt.
Eine willkommene Wolfsfamilie
Am Anfang haben sich in der Gegend die meisten gefreut. Der Wolf in Graubünden, mit Nachwuchs, das war vielleicht sogar ein Grund, stolz zu sein. Die Stimmung war aufgeschlossen, erzählen der Jagdinspektor und der Wildhüter. «Wir hatten auch Glück mit den Elterntieren», sagt Brosi. Die seien eher scheu und zurückgezogen, keine Draufgänger. Und der Herdenschutz für Schafe war um den Calanda herum schon relativ gut, als sich das Elternpaar dort niederliess.
Also gab es durch diese Tiere relativ wenig Verluste. Ganz anders ein paar Jahre zuvor, als nacheinander zwei männliche Einzeltiere im Bergell und danach in der Surselva immer wieder Schafe gerissen und damit für Schlagzeilen gesorgt hatten.
Plötzlich doch ziemlich lästig
Die Stimmung kippte, als die Wölfe im Winter plötzlich auch unten im Tal auftauchten. Der Winter 2012/2013 war hart, lang und kalt. Das Wild stieg auf der Suche nach Futter immer weiter ins Tal hinab. Die Wölfe kamen hungrig hinterher und liefen ungeniert durch Wohngebiete. Mitten in der Nacht trafen sie dort auf Menschen.
Für viele Menschen war damit eine Grenze überschritten. Wer konnte schon sicher sagen, dass ein Wolf in so einer Situation nicht doch einmal den Menschen angreift?
Der Mensch ist keine Beute
«Der Mensch gehört nicht zum Beuteschema von Wölfen», sagt der Jäger und Förster Ralph Manz. Nehme ein Wolf Menschen wahr, suche er sich andere Wege.
Eine Ausnahme seien junge Wölfe auf Wanderschaft. Bei ihnen überwiegen manchmal Neugier und Unerfahrenheit. Aber eben: Als Beute sehen Wölfe Menschen eigentlich nicht. Sie wägen laut Manz gut ab, ob sich der Aufwand für sie lohne, wie viel Futter also für sie drinliege, und wie riskant eine Jagd für sie sein könnte.
Grösseres Wild sei deshalb die Hauptbeute der Calandawölfe. Dabei seien Gämsen eher anstrengend zu erlegen und im Verhältnis zu klein, Schafe im Prinzip eine leichte Beute – aber nur solang der Herdenschutz nicht gut genug sei.
Der Wolf – ein medialer Hype
Dennoch bleibt die Unsicherheit bei vielen, zumindest ein ungutes Gefühl. Der Wolf ist ein Raubtier, um das sich viele Geschichten ranken. Entsprechend durch die Medien geht jede Geschichte, die dieses Unbehagen befeuert oder eine Antwort auf die Frage verspricht: Frisst der Wolf auch Menschen?
Der jüngste Fall ist der einer Wanderin, die in Griechenland angefallen und getötet wurde. Noch ist aber unklar, ob es Wölfe oder verwilderte Hunde waren. Der Nachweis ist schwierig, auch weil die Proben für die DNA-Untersuchung spät genommen wurden. Es wird noch Monate dauern, bis es Ergebnisse gibt, wenn überhaupt.
Woher kommt die Angst?
Ein Grund für die Furcht vieler könnte sein, vermutet Manz, dass früher ein Angriff durch Wölfe die Existenz bedrohte – auch dann, wenn gar kein Mensch verletzt wurde. Dann nämlich, wenn die ganze Familie von der Viehhaltung abhing, und vier getötete Schafe bedeuten konnten, dass schlicht nicht mehr genug da war, um zu überleben.
Und, sagt Manz: «Wir sind die Begegnung mit wilden Tieren einfach nicht mehr gewohnt.» Da ist die Hoffnung hörbar, dass mit der Zeit Mensch und Tier zu einer neuen Gelassenheit finden könnten. Einig sind sich Manz, Brosi und Spadin darin, dass es darum gehen muss, die Wölfe wild zu halten, nicht zu füttern, die Scheu des Tiers vor dem Menschen zu wahren.
Der Wolf als Politikum
Zurzeit wird eine Änderung im Jagdrecht diskutiert, die den Kantonen deutlich mehr Kompetenzen in Sachen Abschussbewilligung für Wölfe einräumen würde. Die Meinungen gehen auseinander.
Der Bundesrat will beim Europarat in Strassburg eine Lockerung der europaweit gültigen Berner Konvention zum Artenschutz beantragen: Der Wolf soll nicht mehr als «streng geschützt», sondern nur noch als «geschützt» geführt werden. Ein Antrag, der 2006 schon einmal abgelehnt wurde.
Georg Brosi sieht den Kanton der Bevölkerung gegenüber in der Pflicht. Wenn ein Wolf für Schaden sorge, müsse es schneller gehen mit einer Abschussbewilligung. Die Kantone sollten selbst mehr entscheiden dürfen.
Pro und contra Wolf: Die Fronten verhärten sich
Die Stimmung gegenüber dem Wolf sei lang nicht mehr so freundlich wie im Sommer 2012, als das Calanda-Rudel die ersten Jungen bekam. Sie sei aber auch nicht mehr so stark aufgeheizt wie nach dem Winter 2012/2013. Die Mehrheit sei neutral. Und doch bekämen je länger je mehr die extremen Positionen Zulauf, pro Wolf genauso wie contra Wolf. Die Polarisierung nehme zu.
Im Vergleich zur Wolfsdebatte im Wallis, wo die Wogen deutlich höher schlagen, ist die Stimmung um Chur immer noch gelassen. Doch wenn dieser Winter wieder hart wird, steigen die Wölfe wieder ab ins Tal, dem Wild hinterher. Dann wird man sie wieder öfter in oder nahe von Wohngebieten sehen. Und dann wird auch in Graubünden die Aufregung wieder wachsen.
Am Ende steht die Erkenntnis: Selbst für den, der den Wolf nicht zu Gesicht bekommt, hat sich das Gebiet am Calanda verändert. Die meisten Besucher wissen, dass er da ist. Die einen kommen grade deshalb und halten Ausschau nach Hinweisen auf die Tiere. Andere bleiben deshalb weg.
Für die Bevölkerung in der Gegend ist der Nachbar Wolf zwiespältig. Das Gleichgewicht zwischen Mensch und Wolf ist in der Schweiz noch nicht gefunden.