Es ist viel los im europäischen Storchendorf Altreu bei Solothurn: Auf Dachgiebeln und in Baumkronen sitzen die Störche auf ihren Horsten und klappern. «Klappern ist ein Instrumentallaut, bei dem die Störche den Ober- und Unterschnabel zusammenschlagen, zirka zehn- bis zwölfmal pro Sekunde», erklärt der Biologe Lorenz Heer. «Um die Resonanz zu verstärken, spannen die Tiere zudem ihre Kehlhaut.»
Heer hat über den Weissstorch ein Buch herausgebracht, in dem er den aktuellen Forschungsstand zu Biologie und Verhalten des schwarz-weissen Zugvogels zusammenfasst. Das Klappern zum Beispiel hat in der «Storchensprache» ganz unterschiedliche Funktionen. Meistens dient es zur Begrüssung, oft aber zur Verteidigung des Horstes während der Brutzeit. Herr und Frau Storch lösen sich bei der Nestbetreuung alle zwei Stunden ab, und bei solchen Wechseln kommt es nicht selten zu Konflikten zwischen den Nestbesitzern.
Vor 75 Jahren galt der Storch als praktisch ausgestorben
In Altreu brüten zurzeit 60 Paare. Dies ist inzwischen nur ein kleiner Bruchteil der schweizerischen Storchenpopulation: Diese ist in den letzten Jahren auf rund 1'000 Brutpaare angewachsen – eine erstaunliche Entwicklung.
Denn der Storch war 1949 in der Schweiz als Brutvogel ausgestorben. Vor dieser Zeit galt er als typischer Riedvogel, als Bewohner also von Überschwemmungslandschaften. «Das sieht man auch an seinem Körperbau», sagt Lorenz Heer: «Die langen Beine und der Pinzettenschnabel sind bestens an dieses Habitat angepasst.»
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Bild 1 von 10. Bei der Paarung hält das Männchen auf dem Rücken des Weibchens mit geöffneten Flügeln das Gleichgewicht. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 2 von 10. Tote Bäume und Äste sind beliebte Schlafplätze von Weissstörchen. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 3 von 10. Offene Mülldeponien gibt es in vielen Regionen um das Mittelmeer. Entlang der westlichen Zugroute und in den Wintergebieten kommen sie vor allem in Frankreich, Spanien, Portugal und Marokko vor. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 4 von 10. Dieses Nesthäkchen hatte Glück: Aus zwei von vier Eiern schlüpfte kein Junges, so überlebte es trotz des grossen Altersunterschieds zu seinem älteren Geschwister. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 5 von 10. Die Vorliebe für Plastik, Karton und Schnüre ist sehr individuell. Einzelne Altstörche bringen regelmässig Müll zum Nest. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 6 von 10. Unzählige Flüge mit Nistmaterial sind notwendig, um einen stattlichen Horst entstehen zu lassen. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 7 von 10. Fliegen will gelernt sein. Bevor die Jungvögel das Nest verlassen, vollführen sie Flugübungen, bei denen sie flügelschlagend wenige Meter über das Nest hochfliegen und wieder zurückkehren. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 8 von 10. An heissen Tagen bringen die Altvögel ihren Nestlingen Wasser. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 9 von 10. Beim Klappern werfen die Weisstörche den Kopf zurück auf den Rücken. Bildquelle: Lorenz Heer.
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Bild 10 von 10. Männchen und Weibchen sind schwer zu unterscheiden. Der Schnabel der Männchen ist länger, und die Männchen sind etwas schwerer als die Weibchen. Bildquelle: Lorenz Heer.
Ein solches Habitat war früher auch die «Witi» – so heisst die Flussebene zwischen Solothurn und Grenchen, wo die Aare früher einem mäandrierenden, dynamischen Lauf folgte und jeweils im Frühling über die Ufer trat. Auf den überschwemmten Matten lebten die Störche zu Tausenden und ernährten sich von Fröschen und anderen Wassertieren. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Flüsse überall begradigt wurden, verschwanden solche Schwemmgebiete – und mit ihnen allmählich der Storch.
Wie der Storch seine Lebensweise angepasst hat
Von Altreu aus wurden ab den 1950er-, 1960-er Jahren wieder Störche angesiedelt. Die Lebensweise der Tiere hat sich inzwischen radikal gewandelt. «Seit seiner Wiedereinbürgerung nutzt der Storch als sogenannter Kulturfolger vor allem intensiv benutztes Agrarland», erklärt der Biologe Heer.
90 Prozent der Störche aus Schweizer Population überwintern entweder hier oder ziehen noch bis Spanien.
Drei Viertel der Storchennahrung besteht heute aus Regenwürmern. Auch Insekten, Mäuse oder Maulwürfe stehen auf seinem Speisezettel. Die grösste Änderung aber betrifft das Zugverhalten: Früher zogen alle Weissstörche in den Wintermonaten in die Sahelzone. Das ist vorbei: «90 Prozent der Störche aus Schweizer Population überwintern entweder hier oder ziehen noch bis Spanien», so Lorenz Heer. Dort finden sie auf Mülldeponien oder auch im umliegenden Land genügend zu fressen, um den Winter zu überstehen.
So hat der Storch immer bessere Voraussetzungen: keine strapaziösen Reisen mehr in den Süden, in der Schweiz milde Frühlinge, die das Brutgeschäft befördern. «Irgendwann wird die steile Wachstumskurve des Bestands in der Schweiz wieder abflachen», so Lorenz Heer. «Doch im Moment haben Störche hierzulande noch viel Raum, um sich weiter auszubreiten.» Die Erfolgsstory des Weissstorchs scheint also noch lange nicht zu Ende.