Gisèle Pelicot wurde jahrelang ohne ihr Wissen von ihrem eigenen Mann Dominique und anderen Männern vergewaltigt. Die gemeinsame Tochter Caroline Darian redet schonungslos über ihre Erlebnisse – und vermutet zudem, selbst vergewaltigt worden zu sein.
SRF: 2020 haben Sie erfahren, dass Ihr Vater Ihre Mutter jahrelang missbraucht hat. Wie geht es Ihnen heute?
Caroline Darian Pelicot: Ich versuche, mich gut zu fühlen und mir vorzustellen, wie es weitergehen soll – ohne zu wissen, wie meine Zukunft aussieht.
Sie führten zuvor ein völlig normales Leben.
Ich hatte das Gefühl, in einer stabilen Familie mit liebenden Eltern zu leben.
Ich glaube, ein grosser Teil des kriminellen Werdegangs meines Vaters ist noch völlig unbekannt.
Wie war es, als Sie von den Taten Ihres Vaters erfuhren?
Im Bruchteil einer Sekunde stürzte ich in den Horror.
Wie beschreibt man das Unfassbare?
Ein Buch darüber zu schreiben, hat mir dabei geholfen, die Gewalt dieser Ereignisse in Worte zu fassen.
Was ist schmerzhafter: das Kind des Opfers oder das Kind des Täters zu sein?
Beides. Plötzlich stellt sich die Frage: Waren die glücklichen Momente unserer Kindheit tatsächlich echt?
Was ist Ihr Vater heute für Sie?
Ein enormer Manipulator mit ausgeprägt psychopathischer Struktur.
Waren Sie ein Vaterkind?
Absolut. Er war fast noch mütterlicher als meine Mutter.
Im Gerichtssaal hatte ich tatsächlich Angst, dass ich es nicht schaffen würde, meinen Vater zu hassen.
Auf dem Computer Ihres Vaters waren auch Aufnahmen von Ihnen: im Tiefschlaf, fast unbekleidet, in fremder Unterwäsche. Sind Sie sich sicher, dass er Sie auch missbraucht hat?
Ich bin überzeugt, dass ich auf den Fotos nicht schlafe, sondern sediert wurde. Das sind Aufnahmen von einem Vater, der einen inzestuösen Blick auf seine Tochter wirft.
Ihre Mutter will oder kann nicht glauben, dass auch Sie sexuell missbraucht wurden. Verschliesst sie die Augen vor der Realität?
Sie kann es nicht akzeptieren. Für sie ist es zu schwierig.
Und wie fühlt sich das an?
Es ist furchtbar schmerzhaft. Aber so ist es nun mal.
Sie haben Ihren Vater während des Prozesses angeschrien: «Ich werde Dich nie besuchen. Du wirst allein enden wie ein Hund.»
Ich werde ihn nie wiedersehen. Ich erwarte nichts mehr von ihm.
Erlauben Sie sich auch Wehmut?
Im Gerichtssaal hatte ich tatsächlich Angst, dass ich es nicht schaffen würde, Dominique zu hassen. Aber je mehr ich sah und hörte, was er getan hat, wie er sich ausdrückt, desto mehr verstand ich, wie kriminell er eigentlich ist.
Und dennoch sagen Sie: Ich vermisse meinen Vater.
Ich vermisse das Bild eines Vaters, den ich zu kennen glaubte.
Kommt Verzeihen für Sie nicht infrage?
Ich werde nicht vergeben können. Ich hoffe auf eine Form von Gleichgültigkeit.
Ihr Vater wird auch noch anderer Verbrechen beschuldigt, unter anderem des Mordes an einer Frau. Halten Sie das für möglich?
Ja. Ich glaube, ein grosser Teil seines kriminellen Werdegangs ist noch völlig unbekannt.
Er versucht weiterhin, aus dem Gefängnis heraus die Familie zu kontaktieren. Wie erklären Sie sich das?
Er ist nicht zu retten – und weiterhin absolut uneinsichtig. Ihm fehlt die psychologische Fähigkeit, das ganze Ausmass seiner Taten zu erkennen.
Sie haben einen Verein gegründet, der sich gegen die chemische Unterwerfung stark macht. Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Das Schwierigste für Opfer chemischer Unterwerfung ist das Sammeln von Beweisen. Wenn es keine Beweise gibt, gibt es keinen Prozess. Das Opfer muss die Tat beweisen, wie in allen Fällen von Sexualverbrechen. Den Opfern wird oft vorgeworfen, dass sie zu viel reden. Ich sage: Als Opfer kann man nie genug reden.
Wo finden Sie in schweren Zeiten Hoffnung?
Wenn mir jemand sagt: Ihr Buch hat mir gutgetan.
Das Gespräch führte Urs Gredig.