Gisèle Pelicot ist zu einer feministischen Ikone geworden. Ihr Ehemann hatte sie mehrere Jahre lang unter Drogen gesetzt, vergewaltigt und sie bewusstlos Dutzenden Männern angeboten. Ein Gericht im französischen Avignon hat ihn kürzlich zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.
Charlotte ist Anfang fünfzig und lebt im Kanton Bern. Der Prozess im Fall Pelicot hat ihr die Kraft gegeben, auszusagen. Vier Jahre lang hat ihr Mann sie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Hat er sie an andere Männer ausgeliefert? Sie hat keine Ahnung. Denn bei sexuellen Übergriffen unter dem Einfluss von Medikamenten bleiben keine Erinnerungen zurück.
Während dieser vier Jahre lebte Charlotte in dem, was ihre Familie «ihre Zustände» nannte: Müdigkeit, Unwohlsein, irritierende sexuelle Erinnerungsfetzen und vor allem ein enormes Schlafbedürfnis, manchmal 48 Stunden lang.
Eines Tages stösst sie beim Aufräumen auf Fotos von sich selbst, auf denen sie ohnmächtig ist, in anzüglichen Posen. Als sie um eine Erklärung bittet, antwortet ihr Mann, er habe die Fotos auf ihren Wunsch hin gemacht. Sie glaubt ihm.
Als sie schwanger wird, hört es mit ihren «Zuständen» auf. Sie bringt das Kind zur Welt, und dann tauchen sie wieder auf. Als ihr Kind zwei Jahre alt ist, lässt sich das Paar scheiden, und Charlottes «Zustände» verschwinden für immer.
Doch sie leidet weiterhin unter Angstattacken, Depressionen und einem seltsamen Gefühl, nicht zu wissen, wer sie ist. Vor ein paar Monaten dann der psychische Zusammenbruch: Charlotte kommt ins Spital, endlich wird ihr alles bewusst. Ihr Mann hatte sie jahrelang unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Heute baut sie ihr Leben neu auf. Ihr Ex-Mann wird nie für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden, denn er ist schon vor Jahren gestorben.
Die Mehrzahl der nachgewiesenen Übergriffe mithilfe chemischer Substanzen fand in der Privatsphäre statt. Die Opfer wurden im Rahmen einer Beziehung missbraucht, die sie für sicher hielten. Der Täter war der Kollege, der Freund, der Ehemann. Ein Mann, dem die Opfer vertraut hatten.
Die 21-jährige Andrea weiss, dass sie von einem Freund der Familie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt wurde. Sie war mit einer Freundin auf einer Party. Ihre Mutter hatte einen älteren Freund gebeten, die beiden Jugendlichen zu beaufsichtigen. Das Trio ging in einen Club und trank viel. Am frühen Morgen gingen sie zum Haus des Mannes, um etwas zu essen. Er bereitete ihnen einen Drink zu. Die beiden Teenager nahmen einen Schluck – und versanken in einem schwarzen Loch.
Am nächsten Tag lag Andrea nackt im Bett ihres «Freundes». Sie eilte nach Hause, sprach mit ihrer Mutter und erstattete am nächsten Tag Anzeige. Es kam zum Prozess, aber ihr Angreifer wurde freigesprochen. Ohne Beweise und mit verschwommenen Erinnerungen ist es schwer, Gerechtigkeit zu erlangen.
Seit diesem Ereignis leidet Andrea unter Depressionen, posttraumatischem Stress und Schlaflosigkeit. Sie hat zweimal einen Selbstmordversuch unternommen und ihr Studium abgebrochen. «Jemanden zu vergewaltigen heisst, jemanden zu töten», sagt sie. Was ihr heute Kraft gibt, ist die Berufung, die sie gegen den Freispruch des Mannes eingelegt hat.