Was hat Sie zu diesem Theaterstück inspiriert?
Baris Atay: Spätestens seit dem Referendum von 2010 erleben wir eine offensichtlich faschistische Entwicklung, die mit der Niederschlagung der Gezi-Proteste durch Präsident Erdogan ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Ich musste ein Stück entwickeln, das den Menschen erklärt, wie so eine Ein-Mann-Herrschaft entstehen kann.
Welche realen Herrscher haben Sie für diese Rolle studiert?
Fast alle Herrscher, die es seit Louis XIV. gegeben hat: Hitler, Mussolini, Franco und Batista. Aber es geht nicht um einen bestimmten Diktator. Sondern darum, wie Diktaturen entstehen.
Wir wollen nicht nur Erdogans Anhängern, sondern auch seinen Gegnern aufzeigen, wie sie bewusst und unbewusst bei dieser totalitären Entwicklung mitgeholfen haben.
Was charakterisiert einen Diktator?
Diktatoren haben bestimmte narzisstische Eigenschaften. In Wahrheit sind sie unsicher, subjektiv. Aber sehr überzeugt von sich. Sie versuchen stets dominant zu sein. Denn sie nähren sich von der Macht, die sie anhäufen. Der Diktator überspielt seine eigenen Mängel, indem er die Schwächen anderer Leute zu seinem Vorteil ausnützt.
Dazu droht er, schürt gezielt Angst, und je mehr Gehorsam er findet, desto stärker fühlt er sich. Das baut sich Schritt für Schritt über eine gewisse Zeit auf.
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Und alle, die dieses Spiel mitmachen, tragen zu dieser Entwicklung bei. Bis zu einem Punkt, der nicht mehr kontrollierbar ist.
Wie wichtig ist die Körpersprache?
Die Körpersprache ist das markanteste Merkmal aller Diktatoren, weil sie die Leute um sich herum dominieren und ihnen Angst machen wollen. Auch ohne Worte, nur durch den Körperausdruck.
Die meisten sprechen mit lauter Stimme, strecken die Brust raus, schauen mit aufgerissenen Augen nach links und rechts, laufen herum und zeigen dabei dauernd auf irgendetwas.
Erdogan drückt eine grosse Leidenschaft aus und weiss diese auch auf andere zu übertragen.
Erdogan ist ein Führer, der den Leuten seine Botschaft mittels Körpersprache sehr erfolgreich vermitteln kann, ähnlich wie man es bei Hitler auch sehen konnte. Er drückt permanent eine grosse Leidenschaft aus und weiss diese meistens auch auf andere zu übertragen.
Was haben Sie persönlich an Repression erlebt?
Ich agiere im Wissen darum, dass die Machthaber wegen meiner Kritik Druck auf mich machen könnten. Ich habe schon einiges an Repression erlebt. Nach den Gezi-Protesten 2013 wurde ich vier Tage lang verhört, als angeblicher Anführer einer Hackergruppe. Später wurde ich zu einer Geldbusse wegen Präsidentenbeleidigung in einer Kolumne verurteilt.
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Erdogan-Anhänger betrieben eine Hetzjagd und machten mich zu Freiwild, indem sie meine Wohnadresse über Twitter veröffentlichten. Ich musste meine Wohnung wechseln.
Eine Zeit lang genehmigten die Behörden meine Theateraufführung nicht mehr, die Polizei schritt jedes Mal ein. Sogar in anderen Ländern Europas haben Erdogan-Anhänger immer wieder unsere Plakate von den Wänden gerissen.
Erst letzte Woche habe ich das wieder in Berlin erlebt. Das wird nicht enden, solange die Menschen die Machthaber nicht stoppen. Klar, wer etwas gegen sie unternimmt, wird diesen Druck erleben, so funktioniert Unterdrückung. Aber der Widerstand muss weitergehen. Solange man die Kraft dazu hat, muss man sich dagegen stellen.
Haben Sie keine Angst, wenn sie dieses Stück in der Türkei aufführen?
Angst ist menschlich, natürlich habe auch ich Angst. Ich habe ein Kind, eineinhalbjährig, und ich fürchte um seine Zukunft. Aber lieber stelle ich mich meinen Ängsten, als sie über mich bestimmen zu lassen.
Würde ich mein Kind als Ausrede benutzen, um meinen Widerstand aufzugeben, dann wird es kein Land vorfinden, in dem es sich zu leben lohnt. Deshalb geht mein Kampf weiter.
Jeden Tag sterben Dutzende in diesem Land, da ist mein Kampf als Schauspieler nicht so wichtig. Ich muss mein Leben genauso riskieren, wie das andere tun. Mein Leben ist nicht wertvoller als das der anderen.