Der Begriff klingt verlässlicher und trockener als das, was sich hinter ihm verbirgt: «Dokumentarisches Theater» verhandelt zwar Wirklichkeit, stellt aber gleichzeitig unsere Wahrnehmung von dem, was echt, beziehungsweise fiktiv ist, permanent in Frage. Damit verbindet das dokumentarische Theater Erkenntnisgewinn und Unterhaltungswert.
Identitätsfragen: Wie bin ich die geworden, die ich bin?
In der Produktion «Schubladen» vom deutschen Frauenkollektiv She She Pop etwa: Da kommen sechs Frauen mit offenen Rollkoffern auf die Bühne, in denen Bücher, Poesiealben und die Schallplatten, die ihr Leben begleitet haben, aufbewahrt sind.
Drei der Frauen sind in der DDR, drei in der Bundesrepublik aufgewachsen. Nun erzählen sie einander, wie das war: Was ihre Mütter gelesen haben, als sie jung waren. Mit welchen Ideologien sie gross geworden sind. Welche Vorurteile sie von klein auf über ihre Kolleginnen im anderen Teil Deutschlands gelernt haben. Und welche Klischees sich im Laufe der Zeit bestätigt haben.
Die soziokulturellen Unterschiede sind auch mehr als zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer enorm. Betont subjektiv und durchaus pointenbewusst gehen die Ostfrauen und die Westfrauen miteinander auf der Bühne ins Gericht und lernen dabei nicht zuletzt sich selber kennen.
Im Scheinwerferlicht: Die Konstruktion der Wirklichkeit
She She Pop ist seit Jahren eine der prägenden Performancegruppen, die ihre eigene Identität zum Hauptthema auf der Bühne macht. Mit ihrem neusten Stück «Schubladen» haben sie am Mittwoch abend in Basel die Dokumentartage eröffnet. Diese bündeln zum ersten Mal wichtige internationale Positionen des dokumentarischen Theaters in einem Festival.
Zusätzlich wird an einem Symposium darüber diskutiert und nachgedacht, wie in dieser spezifischen Theaterform gesellschaftliche, soziologische und künstlerische Fragen zusammenkommen: Was erzählt diese Tendenz über unsere Gesellschaft? Wie haben Facebook, Big Brother und Reality TV Shows unsere Vorstellung von Wirklichkeit verändert? Weshalb kann im Medium Theater dieser aufregende Tanz zwischen Fiktivem und Echten besonders gut erlebbar gemacht werden?
«Breviks Erklärung» sorgte für Wirbel
Das dokumentarische Theater hat es auf Fragen, und nicht auf (einfache) Antworten, abgesehen. Die Wahrnehmung des Publikums wird permanent getäuscht. Mit Mehrwert. Wenn etwa Dokumente aus der sogenannten Realität in den Kunstraum verschoben werden, können Inhalte neu besprochen werden.
Aber auch Aufregung verursachen: Schon im Vorfeld des Basler Gastspiels von «Breviks Erklärung» von Milo Rau etwa. Die Lesung der Verteidigungsrede des norwegischen Demokratiekritikers Anders Breivik, der vor zwei Jahren in einem Massaker 77 Menschen ermordet hat, sollte im Basler Stadthaus stattfinden. Kurzfristig befand jedoch die Basler Bürgergemeinde, dass sie nicht in Zusammenhang mit den teilweise rassistischen Ansichten gebracht werden wolle – und zog ihren Raum zurück.
Fiktive und reale Wirklichkeiten
Der Schweizer Regisseur Milo Rau gehört mit seinen Re-enactments zu den bekanntesten Vertretern des dokumentarischen Theaters. Vor drei Jahren hat er in «Die letzten Tage der Ceausescus» die Verurteilung und Hinrichtung des rumänischen Diktatorenpaars 1989 in originalgetreuer Kulisse von rumänischen SchauspielerInnen nachspielen lassen.
Mit «Breiviks Erklärung» transportiert er nun die Verteidigungsrede des Massenmörders in den Kunstraum. Damit macht er erfahrbar, was diese Rede als Dokument betrachtet und aus ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext gelöst, uns (auch noch) erzählen kann. Jenseits von Moral. Publikumsgespräch nach der Vorstellung inklusive.
Wie konstruiert sich Wirklichkeit? Wie generiert die Bühne eine Realität, von der alle wissen, dass sie (auch) künstlich ist? Und weshalb lassen wir uns auf diesen Strudel von Gedanken, Verunsicherungen und Zweifel überhaupt ein? Wieso sind diese (dokumentarischen) Theaterformen derzeit so beliebt und belebend?
Historischer Bezugspunkt
Einige wichtige Protagonisten des dokumentarischen Theaters
- Milo Rau inszeniert «Moskauer Prozesse» (Kulturkompakt, 4.3.2013) Milo Rau inszeniert «Moskauer Prozesse» (Kulturkompakt, 4.3.2013)
- «100 Prozent Zürich» von Rimini Protokoll (10vor10, 18.10.2012) «100 Prozent Zürich» von Rimini Protokoll (10vor10, 18.10.2012)
- Hans-Werner Kroesingers Doku-Theater (Reflexe, 9.2.2010) Hans-Werner Kroesingers Doku-Theater (Reflexe, 9.2.2010)
- Milo Rau: «Die letzten Tage der Ceausescus» (Reflexe, 25.1.2010) Milo Rau: «Die letzten Tage der Ceausescus» (Reflexe, 25.1.2010)
- Rolf Hochhuth: Einzigartiger Theaterskandal (Passage, 24.10.2008) Rolf Hochhuth: Einzigartiger Theaterskandal (Passage, 24.10.2008)
Der historische Bezugspunkt des dokumentarische Theater geht in die 60er Jahre zurück: Da klagte etwa Rolf Hochhuth in seinem Stück «Der Stellvertreter» Papst Pius Xll an, angesichts der Ermordung der Juden im 2. Weltkrieg geschwiegen zu haben. Oder zwei Jahre später brachte Peter Weiss in «Die Ermittlung» die Ausschwitzprozesse auf die Bühne. Beide verschafften Themen und Positionen eine Öffentlichkeit, die es sonst nicht gegeben hätte. Und beide gingen zweifelsfrei davon aus, dass sie im Recht sind. Dass sie einschätzen können, wo die Bösen, wo die Guten, wo die Opfer, wo die Täter zu orten sind. Was wahr ist.
Diese moralische Eindeutigkeit, die im politischen Theater der 60er und 70er Jahre noch möglich war, ist heutigen Theaterschaffenden weitgehend verwehrt. Zu unübersichtlich, zu multiperspektivisch, zu prekär ist unsere globalisierte Welt geworden. Und mit ihr hat sich auch das Theater verändert. Seine Autorität, sein Potential zeigt es heute nicht mehr über eindeutige Aussagen, sondern in dem es sich selbst in Zweifel zieht. Und damit die Bühne zum Erlebnisraum macht, um über die Welt nachzudenken. Wie viel Spass dabei der Umgang mit dokumentarischem Material bringen kann, ist derzeit in Basel erlebbar.