«Eigentlich sollte es ein normaler Kuss sein», erzählt Sängerin Marysol Schalit in der SRF-Doku über Machtmissbrauch in der Oper. «Aber auf einmal war die ganze Zunge des Kollegen in meinem Mund.» Auf der Bühne, vor Publikum. «Ich war in Schockstarre.» Solche intimen Szenen bieten Raum für Übergriffe. Wenn die Spielenden sich selbst überlassen sind, es keine klaren Abläufe gibt. Oder wenn die Regie intime Berührungen vorgibt, ohne Grenzen zu achten.
Noch ein Nischenthema
Da setzt Intimitätskoordination an. Intime Szenen werden mit allen Beteiligten vorbereitet und die Bewegungen klar festgelegt. «So werden im Eifer des Gefechts keine Grenzen überschritten», sagt Hanna Werth. Sie ist Schauspielerin und die erste Professorin für Intimitätskoordination im deutschsprachigen Raum. An der Düsseldorfer Robert Schumann Hochschule coacht sie den Opernnachwuchs.
In der Filmwelt ist Intimitätskoordination seit #MeToo zum Standard geworden, zum Beispiel bei US-Branchenriesen wie HBO und Netflix. In Theater und Oper kommt sie nur bei einzelnen Produktionen zum Einsatz. Wenn überhaupt. «Ich kenne kein einziges Theater oder Opernhaus im deutschsprachigen Raum, wo eine Intimitätskoordinatorin oder -koordinator fest angestellt ist», sagt Werth. «Dabei wäre das sehr wichtig.»
Auf der Opernbühne geht es meist weniger explizit zu als im Schauspiel oder Film. Der Regiestil ist ein anderer, die Musik gibt den Rhythmus vor. Aber: Es wimmelt von innigen Umarmungen, Küssen und Sex. Und von gewaltvollen Übergriffen: Mozarts Don Giovanni ist ein Vergewaltiger. Benjamin Britten widmet dem Thema eine ganze Oper, «The Rape of Lucretia».
Grenzen setzen
Bei Intimitätskoordination gehe es nicht um Verbote, betont Werth. Das künstlerische Team muss sich Gedanken darüber machen, was genau welche Berührung erzählen soll – das habe kreatives Potenzial. «Das macht die Inszenierung besser, die Darstellung von Intimität vielfältiger.»
Um Berührungen einvernehmlich auf die Bühne zu bringen, bekommen die Darstellenden konkrete Werkzeuge an die Hand. Bei der «Boundary Praxis» etwa geben alle Spielenden an, welche Bereiche des Körpers für eine Szene freigegeben sind. «Ich zwinge meine Studierenden förmlich, diese Übung vor jeder Probe zu machen», so Werth. Sie will ihnen schon in der Ausbildung die Fähigkeit vermitteln, ihre Grenzen zu benennen. Das sei wichtig in einem Beruf, in dem es auch darum geht, zu gefallen.
Spiellust statt Unklarheit
Solche Techniken können die Düsseldorfer Studierenden beim Opernprojekt der Hochschule direkt anwenden: Francesco Cavallis «La Calisto», mit lauter intimen Szenen: «Einvernehmliche Liebesszenen, solche, wo es ein Machtgefälle gibt, sogar eine Massenvergewaltigung.» Werth ist als Intimitätskoordinatorin dabei. Die Regisseurin sei dankbar. Und die Studierenden würden befreiter spielen – und besser.
Für Werth ist klar: Intimitätskoordination kann dazu beitragen, Übergriffen vorzubeugen. «Schon allein, weil sie ein Bewusstsein dafür schafft, dass es bei intimen Szenen zu Verletzungen kommen kann.» Sie kann verhindern, dass Grenzen aus Unachtsamkeit überschritten werden.
Bei bewussten Übergriffen allerdings hilft auch keine Intimitätskoordination. Die Bühne als «safe space»? Kaum möglich, so Werth. «Aber man kann versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem das Risiko der Verletzung möglichst klein ist.»