Mit René Pollesch verbinden sich zahlreiche belebende Theatermomente. Für mich auch ein ganz persönlicher: Es war ein anstrengender Arbeitstag. Der Kopf schmerzte. Abends noch Theater, ich fragte mich, warum ich diesen Beruf gewählt hatte und was das überhaupt für ein Beruf sei.
Dann anderthalb Stunden Pollesch – und ich kam heraus wie frisch geboren. Belebt, beflügelt, der Kopfschmerz weg. Es war sein Geheimnis, wie er das immer geschafft hat. Redeschlaufe nach Redeschlaufe, man konnte dem gar nicht immer bis in alle Diskurs-Verwinkelungen folgen. Und verliess das Theater gestärkt und inspiriert.
Pollesch war nicht wegzudenken
Es wurde viel und schnell geredet an Polleschs Theaterabenden – die Vergangenheitsform schmerzt beim Schreiben. Pollesch war aus dem deutschsprachigen Theater nicht wegzudenken. Nun ist er weg. Und mit ihm wohl seine Stücke:
Polleschs Theaterabende waren Ad-hoc-Ereignisse, entstanden im Austausch mit den Darstellenden, nicht nachspielbar und mit einem Nachspielverbot belegt. Es waren Redestücke, ein assoziatives Brainstorming, wobei das Wort «Sturm» wörtlich zu nehmen ist: Redegewitter, Gedankenblitz und Diskursdonner.
Rasant und pointiert arbeiteten sich Polleschs Texte an ihren Inhalten ab, in einer unnachahmlichen Mischung aus aktueller Basis und theoretischem Überbau. Sie stellten immer eine Überforderung dar, für die Performenden wie fürs Publikum. Es war die vergnüglichste Überforderung.
Pollesch nahm das Theater unter die Lupe
René Pollesch hatte stets einen klaren Blick auf diffuse Fragestellungen. An diesen war kein Mangel. Die Welt lieferte sie ihm frei Haus. Die Durchkapitalisierung des Alltags, die Vermarktung von allen und allem, auch dem Gefühlsleben zum Beispiel. «Man muss einfach sich selbst bleiben», sagt ja heute jeder Zwölfjährige.
An so etwas konnte Polleschs Blitzmaschine sich entzünden: Was macht mich aus? Was bedeutet Sachlichkeit? Wenn man die Menschen nicht nach dem Äusseren beurteilen soll, wonach dann? Solche Fragen waren typische Pollesch-Fragen. Sie bezogen sich auch auf das Theater selbst. Lässt sich mit dem Spiel Ernst machen? Aus Schein Dasein?
Auch das Theaterspielen hat er ganz genau unter die Lupe genommen, unter die Theorie-Lupe und die Kalauer-Lupe, das Theaterspielen-Spielen und das Zuschauerspielen. Was bedeuten Künstlermythen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit? So etwas hat er gern als grosse Show inszeniert, mit ästhetischen Anleihen beim Boulevard und beim Broadway, mit Schwung und Pop und intellektueller Verve.
Nichts ist ok
«Schmeiss dein Ego weg!» hiess eines seiner Stücke, «Calvinismus Klein» ein anderes, im protestantischen Zürich natürlich, «Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Zusammenhang!» ein drittes. Schon die Titel muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Erst vor wenigen Tagen hatte an der Berliner Volksbühne, an der René Pollesch seit 2021 Intendant war, seine letzte Arbeit Premiere: «ja nichts ist ok».
Nichts ist okay. Es klingt heute wie eine bittere Bilanz. Theaterspielen lohnt sich, auch wenn die Gesellschaft sich nicht verändern will. Das hat René Pollesch in einer Reflexe-Sendung einst betont. Er fehlt so sehr.