1939 soll es zum ersten Mal stattfinden, das internationale Filmfest. Das hat sich der Kulturminister gewünscht. Der 2. Weltkrieg kommt dazwischen. 1946. Endlich ist es soweit. Cannes startet holprig, schon nach zwei Jahren ist die Finanzierung im Eimer, das Festival fällt erstmals aus. 1966. Das Ding läuft. Pracht-Hotels säumen eine Strassenseite, die andere ist ganz einfach: Strand. Freie Sicht aufs Mittelmeer. Wasser und Himmel endlos, satt, azur. Palmen, der Wind kommt manchmal aus Afrika.
Ein neuer Hafen ist seit einem Jahr in Betrieb. Ältere Herren, allesamt «Produzenten» fahren mit gigantischen Jachten vor. Formidabel junge Damen begleiten die segelnden Zipperlein. Im Hintergrund weisse Schaumkronen. Gicht und Gischt sind nah beisammen. Ein Mythos wird herumgereicht: Man muss nur jung und hübsch sein, dann klappt das schon mit der Karriere.
Cannes ist Kino und Chilbi
Der Fremdenverkehrsverein freut sich über’s Festival, das findet in der Vorsaison statt. Ein paar hundert Menschen zieht’s am Anfang in die Stadt. Heute ist hier grosser Bahnhof. Derselbe Fremdenverkehrsverein ruft einen «Miss-Filmfest-Wettbewerb» aus. Grosse Busen sind Mode, aus ganz Europa wird Doppel-D heran gekarrt. Man räkelt sich.
Cannes ist die grosse Hoffnung «kleiner namenloser Schicksale», wie der Sprecher der Wochenschau vermeldet. Hobbyfotografen strömen. Ein Zoo steuert Löwenbabies bei für den «Jööh-Effekt». Cannes ist Kino und Chilbi. Und über allem weht der Wind aus Afrika.
Die kalte Sonne der Blitzlichter
Dann endlich kommen die Stars: Sophia Loren sitzt in der Jury, Kirk Douglas, Glenn Ford. Geraldine Chaplin, blutjung, steht noch ganz am Anfang. Und eine alte französische Diva, Martine Carol ist vergessen vom Erfolg.
Der Sprecher der Wochenschau: «Sie versucht, sich in der kalten Sonne der Blitzlichter zu wärmen.» Cannes wird zum Sunset Boulevard of Broken Dreams.
Am «Schweizer Tag» empfängt Sophia Loren Stephanie Glaser, Helmut Förnbacher und einen Jodlerchor aus dem Appenzell.
Das immerwährende Ärgernis «Jury»
Festival de Cannes 2015
Von heute aus gesehen ist 1966 alles an Widersprüchlichkeit grosser Festivals bereits sichtbar. Der Spagat zwischen Kunst und Kommerz, die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz, das Dauer-Ärgernis «Jury». Schon 1966 wird sie für ihre Entscheidungen von der Presse abgestraft.
Die NZZ vom 27. Mai 1966 schreibt aus der Ferne, dass sich «leider keine Tendenz abzeichnete ausser der in Cannes wohlbekannten, möglichst viele Wünsche zu befriedigen und möglichst allen Versuchen der Druckausübung nachzugeben.» Ein Satz der heute noch verheerend treffend scheint, nicht nur in Cannes.
In Cannes selber bringen die französischen Kritiker Trillerpfeifen zur Siegerentscheidung mit. Das gibt’s sechs Jahre vorher erstmals bei «La Dolce Vita» und hat sich bewährt.
Die NZZ findet: «Nun will das Geschrei der französischen Filmkritik, vorab von deren sektiererischen Vertretern der Filmzeitschriften, nichts bedeuten.»
Gemeint sind wohl Godard, Truffaut und Louis Malle, der präsidiert zwei Jahre später, 1968, die Jury, verlässt sie aber vorzeitig und geht lieber mit den Studenten in Paris auf die Strasse. Aus dem Protest entsprang das Gegenfestival «Quinzaine des réalisateurs» , das wurde zum Sprungbrett vieler Autorenfilmer.
Und heute?
Cannes hat wie fast jedes Festival über die Jahre nachgebessert: Es gibt den Wettbewerb und die Filme ausserhalb der Konkurenz, Kurzfilme, Experimentelles. Es gibt den Preis der Filmkritik, der gilt als der unbestechlichste.
Die grossen europäischen Festivals rangeln um die Premieren, die Interessenlage ist klar: Wer in Cannes seine Premiere macht, will etwas im Gegenzug. Glamour gibt's nicht umsonst.
Sendungen zum Thema
In Cannes wird fundamental gestritten: über Filme, über die Juryentscheidungen und die Zukunft des Films. Eine Nummer kleiner geht's nie. Zwei Wochen geht es nicht um die Ware Film sondern um den wahren Film. Cannes ist, wie jedes Festival, auch die Plattform politischer Positionierung der Festivaljury.
Cannes – das sind fundamentale Diskussionen auf Pressekonferenzen, deren Fortsetzung findet zu vorgerückter Stunde in erlesenen Lounges oder an wackligen Bistrotischen statt. Freundschaften enden hier. Am nächsten Morgen, weiss keiner mehr warum.
Und ein Jahr später geht alles wieder von vorne los: Jachten werden anlegen, junge Damen werden flanieren, Filme wird es geben und die Jury. Über allem weht der Wind aus Afrika über's Mare Nostrum.