Wer alt genug ist, erinnert sich: Am 6. September 1970 entführten Mitglieder der palästinensischen Volksfront einen vollbesetzten Swissair-Flug. Die Menschen an Bord landeten nicht wie geplant in New York, sondern in der jordanischen Wüste, wo sie in Geiselhaft genommen wurden. Es war ein Ereignis im damals erst gerade eingeführten Farbfernsehen.
Über 50 Jahre ist dieser Vorfall nun her, und die dokumentarische Aufarbeitung war überfällig. Der Zeitpunkt und die Ausgangslage für das Projekt waren günstig.
Dokumentarische Aufarbeitung
Es existiert viel Archivmaterial, von den involvierten Personen sind noch etliche gesund und auskunftsfreudig, und ein 2016 erschienenes Sachbuch («Schweizer Terrorjahre») hielt das öffentliche Interesse am Stoff aufrecht.
Allein das Thema dürfte für viele Menschen ein Grund sein, sich den neuen Dokumentarfilm anzuschauen. Dazu muss man sich vor Augen halten: Ein terroristischer Akt wie dieser war 1970 noch ein völlig neuartiges Phänomen.
Aus heutiger Sicht ein bitterer Vorgeschmack auf die zahlreichen internationalen Anschläge und Attentate, die im angebrochenen Jahrzehnt folgen sollten.
Anregend und schnell
Es gibt aber über das Thema hinaus noch einen weiteren Grund, sich den Film von Adrian Winkler und Laurin Merz anzusehen: Er ist handwerklich hervorragend gemacht.
Gleich zu Beginn werden in einer schnell geschnittenen Sequenz die wichtigsten Fakten vermittelt und Schlüsselfiguren eingeführt, unterlegt mit unheimlicher, aber nicht aufdringlicher Musik: Das ist anregend und macht Lust, die ganze Geschichte zu erfahren.
Aus erster Hand
Danach spielen die beiden Filmemacher ihre grössten Trümpfe aus: Zwei weibliche Flight Attendants und der Maître de Cabine des damaligen Fluges geben Auskunft darüber, wie sich die Entführung angefühlt hat. Man ist mittendrin und bekommt immer mit, was man wissen muss, um den Geschehnissen folgen zu können. Noch packender wird es, als zusätzlich ein entführter Passagier zu Wort kommt.
Erst nachdem diese emotionale Basis gelegt ist, kommen erstmals eine Historikerin und ein Historiker zu Wort, die einordnen, wie sich der Konflikt im Mittleren Osten damals ausnahm, wie sich die Schweizer Politik dazu verhielt, und wie die Verhandlungen mit den Geiselnehmenden verliefen, die mit ihrer Aktion drei inhaftierte Landsleute freibekommen wollten.
Sorgfältiger Aufbau
Je länger der Film dauert, desto klarer wird, wie durchdacht er konstruiert ist: Einerseits wird chronologisch weitererzählt, wie die Geiselnahme im Detail verlief. Andererseits wird das Feld der politischen Implikationen ausgeweitet: Weitere Personen erinnern sich – auch der damalige Nationalrat Jean Ziegler – und bringen zusätzliche Elemente ins Spiel.
Die 90 Minuten des Films sind schnell vorbei: Man lernt viel, fühlt viel, und das Dranbleiben am Stoff ist ein Leichtes, obwohl die Themen schwer sind. Das ist übrigens eine nicht zu verachtende Qualität von «Swissair 100 – Geiseldrama in der Wüste»: Der Film erzählt ausführlich vom Nahostkonflikt, ohne sich in strittigen oder einseitigen Aussagen zu verheddern.