Bereits in den 1930er-Jahren entstand in Locarno eine gewisse Filmbegeisterung. 1939 wurde dort ein Filmstudio gegründet, in dem Spiel- und Dokumentarfilme produziert wurden: «Eve» von Francis Borghi oder «Wenn der Kuckuck ruft» von Virgilio Gilardoni.
Vordenker aus Lugano
1944 kehrte eine Gruppe von Kinofreunden aus Lugano begeistert vom Filmfestival in Venedig zurück. Sie gründeten die Filmschau in Lugano. Aus den zu kleinen Kinosälen wollten sie ausweichen in ein Freiluftkino im Parco Ciani.
Die politische Opposition aber wollte das Geld lieber für Wohnhäuser ausgeben als für die feinen «Signori» vom Kino. So scheiterte das Filmfestival Lugano 1946 in einer Volksabstimmung.
Filme im Hotelpark
Luzern wollte das Festival ausrichten, auch Schaffhausen. Doch wenige Stunden nach der Volksabstimmung in Lugano übernahmen fünf Persönlichkeiten aus Locarno deren Idee: Sie schufen ein Freiluftkino im Park des Grand Hotel Muralto.
Es war der 26. August 1946: Die erste Ausgabe des Filmfestivals Locarno eröffnete mit dem Film «O Sole Mio».
Ein Jahr verspätet
Kurios begann die Geschichte des Festivals – und bewegt ging sie weiter: Die Festivalausgabe 1951 fiel aus. So kommt es, dass erst jetzt, im Jahr 2022, die 75. Ausgabe des Filmfestivals gefeiert werden kann.
Die Fünfziger- und Sechzigerjahre waren eine Blütezeit für das kommerzielle und das künstlerische europäische Kino, insbesondere für das italienische. Visconti, Fellini, Antonioni, schliesslich Bertolucci …
Aber der Aufstieg des Fernsehens und der Niedergang des europäischen Kunstkinos waren nicht aufzuhalten.
Pullover statt Abendrobe
Es folgten schwierige Jahre. Subventionen wurden gekürzt. Doch nicht nur das: Im August 1968 wurde der Aufstand in der Tschechoslowakei niedergeschlagen. Der daraus resultierende 1968er-Protest erreichte auch Locarno.
Es gab keine Freilichtaufführungen mehr im Grand Hotel – dort, wo Abendrobe obligatorisch war. Der Festivaltermin wurde in den Oktober verlegt, um weniger Touristen und mehr Studenten anzuziehen.
Nach ihrer Weigerung, Filme aus Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts zu beurteilen, trat die Jury zurück. Die NZZ empörte sich über junge Filmfreunde in Hemd und Pullover, die über Filmwirtschaft diskutieren wollten. Es kam zum Tumult, die Zuschauerzahlen sanken, die Krise war perfekt.
Grösste Leinwand Europas
Rund um den Architekten Livio Vacchini entstand dann 1970 die Idee, das Festival auf die Piazza Grande zu holen. Der Bau der Grossleinwand überstieg eigentlich die finanziellen Möglichkeiten Locarnos – kostete er doch die astronomische Summe von 200'000 Franken.
Um für das nötige Dunkel zu sorgen, wurde im gesamten Stadtzentrum der Strom abgestellt. Die Betreiber von Bars forderten Schadenersatz. Aber die verrückte Idee der grössten Kinoleinwand Europas rettete das Festival.
Herzstück des Festivals
Im Park des Grand Hotels hatten 2000 Zuschauer Platz gefunden. Auf der Piazza Grande waren es dagegen 7000. Bald schon war sie das Herz des Festivals: Nicht nur vermittelte die Grossleinwand Filmgenuss. Das Gesamterlebnis auf der Piazza wurde zum Alleinstellungsmerkmal des Filmfestivals von Locarno – bis heute.
Ab Ende der 1970er-Jahre war das Festival zu gross, um einzugehen – und zu klein, um ohne massive Hilfe zu überleben. Seine Seele und sein «Padre Padrone» war der Druckereibesitzer Raimondo Rezzonico. Ohne diesen «Presidente», der sogar die Festivalsekretärin aus eigener Tasche bezahlte, ging gar nichts.
Künstlerisch erlebte das Festival turbulente Zeiten, erneut wurden Subventionen gestrichen.
Den Leoparden-Look geprägt
Schliesslich holte man zu Beginn der 1980er-Jahre David Streiff, den Leiter des Schweizerischen Filmzentrums, an Bord. Streiff begann das Festival konsequent auf den Autoren- und Nachwuchsfilm aus aller Welt auszurichten.
Er führte den Leoparden-Look als «Corporate Identity» ein und prägte das Festival über zehn Jahre hinweg ausgesprochen nachhaltig, ebenso sein Nachfolger Marco Müller.
Dann kam, nach neuen Turbulenzen, mit dem heutigen Präsident Marco Solari der grosse Sprung nach vorne. Er vervielfachte die Sponsoren und vergrösserte das Budget, führte ein professionelles Management ein, baute Locarno zum Festival der ersten Klasse aus. Mithin half die entschlossene Kampfansage, sich fortan mit den Grossen der Festivalwelt zu messen.
Wirren um die künstlerische Leitung
Entscheidend dabei waren hochkarätige künstlerische Leiterinnen und Leiter – die zu halten gerade dann nicht einfach ist, wenn sie wirklich gut vernetzt und gefragt sind. So blieb die Römerin Irene Bignardi ab 2000 nur gerade für vier Ausgaben, ihr Nachfolger Frédéric Maire übernahm nach ähnlich kurzer Zeit die Direktion der Cinémathèque Suisse, und Maires Nachfolger Olivier Père hörte gar nach bloss drei Ausgaben wieder auf, um Generaldirektor von Arte France Cinéma zu werden.
Worauf Presidente Marco Solari auf ein Eigengewächs des Locarno-Festivals setzte, den langjährigen Festivalmitarbeiter Carlo Chatrian. Der war aber so gut, dass ihn die grosse Konkurrenz, die Berlinale, als Direktor nach Deutschland abwarb.
Das nächste Gastspiel, das der Französin Lili Hinstin, war mit anderthalb Ausgaben das bisher kürzeste. Massive Differenzen über die Ausrichtung des Festivals führten mitten in der Corona-Pandemie zur Trennung. Nun versucht Giona A. Nazzaro das Festival an die postpandemisch veränderten Ansprüche anzupassen. Mit seiner ersten Ausgabe im letzten Jahr ist ihm das recht vielversprechend gelungen.
Im kompetitiven globalen Umfeld wollte Marco Solari das Festival «too big to fail» machen. Er suchte die feste Verankerung in der Privatwirtschaft, beim Kanton und beim Bund.
Er hat dieses Ziel mit Umsicht, Diplomatie und viel politischem Instinkt erreicht. Im steten Bewusstsein, dass nichts je bleibt, wie es ist.