Céline Dion liegt auf einem Bett, Krämpfe jagen durch ihren Körper, ihre Hände gekrümmt, ihr Gesicht erstarrt, Tränen rollen ihre Wangen runter. Fast zehn Minuten geht die Szene. Sie stöhnt ihre Zustimmung, so gefilmt zu werden.
Es ist die krasseste Szene im soeben erschienenen Dokumentarfilm «I Am: Céline Dion». Seit die Kanadierin 2022 in einem emotionalen Instagram-Post bekannt gab, dass sie am Stiff-Person-Syndrom leide, hat sie sich mehrheitlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen – bis jetzt.
Céline Dion sagt, was Sache ist
«Es war erschreckend, eine Diva so sterblich zu sehen», schreibt ein «New York Times»-Journalist. Erschreckend: ja. Aber: kein No-Go mehr. Kranksein im Showbusiness bedeutet heute nicht mehr unbedingt ein Karriereende. Vor allem, wenn man richtig kommuniziert.
«Céline Dion hat alles richtig gemacht», sagt Kommunikationsberater Sacha Wigdorovits: «Als Star sollte man proaktiv mit den eigenen Worten und dem eigenen Bild auf dem eigenen Kanal sagen, was Sache ist», so Wigdorovits weiter.
So nehme man Spekulationen den Wind aus den Segeln. Negativ-Vorbild: das englische Königshaus. «Alles, was sie unter den Teppich kehren wollen, kommt irgendwann raus», so Wigdorovits.
Wort der Stunde: Authentizität
Dem pflichtet «Gesichter & Geschichten»-Chefin Paola Biason bei. «Heute fällt auf, wenn ein Star lange nichts in den sozialen Medien postet.» Die sozialen Medien zementieren dieses neue Superstar-Ideal: authentisch, nahbar, verletzlich. Biason: «Es wird offener über Tabuthemen geredet – auch über Krankheiten.»
Man denke an Sänger Lewis Capaldi, der wegen Tourette-Tics nicht weitersingen konnte. Capaldi lässt Fans auf Instagram und in einer Netflix-Doku an seiner Krankheit teilhaben.
Verletzlichkeit schadet dem Image nicht, sondern hilft.
Ähnlich, Schauspieler Michael J. Fox, über dessen Leben mit Parkinson letztes Jahr ein Film herauskam. Oder Schweizer Musiker Dino Brandão, der auf dem neuen Album neben seiner MS-Diagnose offen über seine traumatisierende Zeit in der Psychiatrie erzählt.
Es scheint, das Publikum sei toleranter gegenüber Superstars, die nicht makellos sind. Sacha Wigdorovits ist überzeugt: «Verletzlichkeit schadet dem Image nicht, sondern hilft.» Wir erkennen uns in den imperfekten Stars wieder.
«Bei Céline Dion war es ein bewusster Entscheid, ihre Trauer öffentlich auszuleben – wie damals beim Tod ihres Ehemannes René Angélil», so Biason.
Die ewige Performerin
Aber wie authentisch sind die Einblicke wirklich? Nebst idealistischen Motiven – in der Schuld der Fans stehen, Singen aus Leidenschaft – geht es auch ums Geschäft. Als kranker Star zu gelten, ist risikoreich: Zwar sind alle Stars für Auftrittsausfälle gut versichert. Was aber, wenn Sponsoren abspringen? Ihr Körper ist ihr Kapital.
Kaum erstaunlich, versichert die 56-Jährige mantraartig: «I’ll be back!». Dion liebt es, eine Performerin zu sein. «Sie lebt von der Zuneigung ihrer Fans. Das fehlt ihr jetzt», sagt Paola Biason. Es bleibt die Anteilnahme der Masse via Instagram.
Streamingstart: 25.6.2024 bei Prime Video.