Der Dokumentarfilm «The Earth is Blue as An Orange» der Kiewer Regisseurin Iryna Tsilyk handelt von einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihren vier Kindern in der Ostukraine lebt. Gemeinsam dreht die Familie einen Film über den Kriegsalltag seit 2014.
Der Film wird am diesjährigen «Visions du Réel-Festival» in Nyon als Abschlussfilm gezeigt. Im Gespräch erklärt die Regisseurin, weshalb die Doku für sie auch ein Akt des Widerstands ist.
SRF: «The Earth is Blue as An Orange»: Der Name Ihres Filmes ist – für einen Film über den Alltag im Krieg – eher ungewöhnlich. Was steckt dahinter?
Iryna Tsilyk: Der Titel ist absichtlich poetisch. Ich habe versucht, das Gefühl der Surrealität zu vermitteln, das entsteht, wenn man zum ersten Mal in ein Kriegsgebiet kommt und Zivilisten dabei beobachtet, wie sie trotz der Umstände versuchen, ein normales Leben zu führen.
In der Ostukraine habe ich mich gefühlt, als befände ich mich an einer Kreuzung zwischen Krieg und Frieden. Der Titel stammt aus einem Gedicht des Poeten Paul Élouard.
Ich versuche nach wie vor, diese Realität zu begreifen.
Was hat Sie dazu bewogen, diesen Film zu drehen?
Ich wollte herausfinden, was es bedeutet, als Zivilist in Kriegszeiten zu leben. Ehrlich gesagt hätte ich mir damals nie vorstellen können, dass dieser Krieg auch in meine Stadt Kiew kommen könnte. Ich versuche nach wie vor, diese Realität zu begreifen.
Die Protagonisten in Ihrem Film strotzen vor Kreativität und Lebenswillen. Wie sind Sie auf sie gestossen?
Ich war Mentorin in einem Filmcamp für Kinder im Kriegsgebiet im Osten der Ukraine namens «Yellow Bus». Dort traf ich auf die beiden filmbegeisterten Schwestern Myroslava und Nastya. Sie luden mein Team und mich zu sich nach Hause ein.
Die Familie ist ein Glückstreffer.
Ja, durchaus! Als wir zum Haus kamen, voll mit Katzen, Musik und Gesprächen über Kunst in Kriegszeiten, haben wir uns sofort in die Familie verliebt. Ich wusste, dass ich ein intimes Porträt dieser Familie drehen wollte, die auch im Krieg versucht, ihr Leben in vollen Zügen zu geniessen.
Ihr Film feierte 2020 Premiere und wurde unter anderem am Sundance Filmfestival ausgezeichnet. War das hilfreich für die Botschaft dahinter?
Tatsächlich erlaubte mir der Erfolg meines Filmes, metaphorische Brücken zwischen Ukrainerinnen und Ukrainern und Menschen aus aller Welt zu bauen. Die Sprache der Kunst kreiert einen besonderen Platz für Dialoge. Kunst und Film sind starke Werkzeuge der kulturellen Diplomatie.
Die Menschen wollen trotz der Umstände ein normales Leben führen.
Was können Dokumentarfilme über den Kriegsalltag bewirken?
Ich bin überzeugt davon, dass Filme die Distanz zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern und den Menschen im Krieg verkürzen können. Oft fällt es schwer zu verstehen, was es tatsächlich heisst, in einem Kriegsgebiet zu leben. Das Leben wird im Krieg nicht einfach auf «Stand-by» gesetzt. Die Menschen wollen trotz der Umstände ein normales Leben führen.
Sie sind mit Ihrem Sohn aus Ihrer Heimatstadt Kiew in den Westen der Ukraine geflohen. Wie können Sie als Kunstschaffende trotzdem Widerstand leisten?
Widerstand leiste ich, indem ich viel schreibe und meine Stimme nutze. Mein Film wird rund um den Globus gezeigt. Das hilft mir, Spendengelder zu sammeln. Klar scheint das im ersten Augenblick weniger wichtig als der Kampf an der Front. Dennoch ist es unverzichtbar für mein Land, die Werkzeuge und Waffen der Information und der kulturellen Diplomatie zu nutzen.
Wissen Sie, wie es der Familie heute geht?
Mit der Familie verbindet mich mittlerweile eine Freundschaft, wir stehen ständig in Kontakt. Sie befinden sich seit Februar in Litauen in Sicherheit. Glücklicherweise hatten sie sich bereits Flugtickets für die Premiere dort gekauft. Der Film ermöglichte ihnen so letztlich die Flucht.
Das Gespräch führte Suad Demiri.