Gretel Sieveking: Akademikerin, in einer offener Beziehung mit ihrem Ehemann Malte, politisch aktiv in der 1968er-Bewegung, Liebhaberin, Feministin, vielseitig engagiert – aber auch die Frau an der Seite des Professors, die Mutter, die kocht, wäscht, putzt, drei Kinder und schliesslich die Enkelkinder in ihrem Haus betreut, auf die eigene berufliche Karriere verzichtet.
Mit 67 Jahren erkrankt Gretel Sieveking an Alzheimer. Ihr jüngster Sohn David packt die Kamera aus, um seiner Mutter mit «Vergiss mein nicht» ein filmisches Denkmal zu setzen.
Humor - nicht immer freiwillig
Gretels Geschichte fesselt nicht nur in den Momenten, in denen von ihrem früheren Leben berichtet wird. Die Faszination, die von der jungen, mit Schönheit und Intelligenz reichlich ausgestatteten Gretel ausgeht, manifestiert sich im nicht immer freiwilligen Humor der betagten Frau. Die kaum selbst verordnete Gelassenheit im Umgang mit der Krankheit berührt zutiefst. So gegensätzlich Gretel uns im Film erscheint – als junge autonome Frau einerseits, als zum Vergessen Verdammte andererseits –, in ihrem Werdegang spiegelt sich eine gesellschaftliche Diskussion, die immer relevanter wird.
Mit entwaffnender Offenheit
In «Vergiss mein nicht» wird Demenz nicht als unbeherrschbares Schreckgespenst beschworen oder durch Statistiken und Fakten vermittelt. Indem David Sieveking sich dem Thema selbst mit entwaffnender Offenheit nähert, indem er beschliesst, fortan bei seiner Mutter zu wohnen, sie zu pflegen und mit der filmischen Begleitung das Publikum an diesem Weg teilhaben zu lassen, entfernt er sich vom gängigen, abstrakten Diskurs um die Alterskrankheit.
Sieveking gelingt es dabei vom ersten Moment an, den leisesten Voyeurismusverdacht zu unterbinden. Er führt seine Mutter in ihrer Hilflosigkeit und ihrem stetigen Verfall nie vor. Im allgegenwärtigen Vergessen findet David Sieveking vielmehr die Möglichkeit des Erinnerns.
Neues, intensives Erleben
Während seine Mutter den Sohn für ihren Mann hält oder Butter auf die Aprikose, statt aufs Brot streicht, bringt der Sohn immer mehr über seine Mutter und ihr Leben in Erfahrung. So entsteht ein neues, intensives Erleben mit den Eltern und eine persönliche, adäquate Auseinandersetzung mit der Krankheit. Immer wieder schimmert schliesslich so etwas wie Lebensqualität, vielleicht sogar Hoffnung auf.
Das ist dann auch Sievekings grösster Verdienst: Obwohl «Vergiss mein nicht» ein äusserst persönlicher Film ist, versteht es der Regisseur, sich selbst zurückzunehmen. Nicht er steht im Mittelpunkt, sondern seine Mutter, ihr Leben und allenfalls ihre Beziehung zu ihrer Familie, zum Sohn und schliesslich unser eigener Umgang mit dementen Menschen.
Keine Bauchnabelschau
Diese Reife war dem im Jahr 1977 geborenen Sieveking zwei Jahre zuvor noch nicht gegeben. In einer Phase von Orientierungslosigkeit machte er sich damals auf die Suche nach seinem Namensvetter und Idol, dem international erfolgreichen Regisseur David Lynch. Neben der Entlarvung einer sektiererischen, machthungrigen Bewegung, deren Aushängeschild Lynch heute ist, setzte Sieveking in seinem Dokumentarfilm «David Wants to Fly» auch explizit sein Privatleben in Szene, was bald Nerven und Geduld des Publikums über die Masse zu strapazieren drohte.
Obwohl oder gerade weil «Vergiss mein nicht» dem Regisseur näher geht, wird der Film nie zur Bauchnabelschau oder zum Betroffenheitskino. Sieveking zeigt einen möglichen Umgang mit Altersdemenz, sensibel, einfühlsam und dabei immer auch humorvoll.