Wenn am 2. März die Oscar-Trophäen vergeben werden, ist das Sundance Film Festival mittendrin. Allein im Rennen um den besten Dokumentarfilm feierten vier der fünf nominierten Filme ihre Weltpremiere vor einem Jahr in Park City, einer US-amerikanischen Stadt in Utah.
Die Dokumentarfilme bleiben auch dieses Jahr das Kronjuwel des Festivals. Mstyslav Chernov, dessen Film «20 Days in Mariupol» vor zwei Jahren hier debütierte und letzten März den Dokumentarfilm-Oscar gewann, nimmt uns mit «2000 Meters to Andriivka» in die Schützengräben nahe Bachmut mit. Viele seiner Protagonisten sind seit den Dreharbeiten im Krieg gefallen.
Sogar noch eindringlicher ist «Mr. Nobody Against Putin» – mitfinanziert vom Westschweizer Sender RTS. Hier dokumentiert eine Assistenzlehrkraft, wie die russische Propagandamaschine seine Kleinstadt durchdringt: Lehrer hetzen plötzlich gegen die Ukraine, ehemalige Schüler werden eingezogen. Als der Protagonist selbst ins Visier gerät, flüchtet er aus Russland und schmuggelt seine Filmaufnahmen über die Grenze.
Kaum Schweizer Produktionen
Ansonsten spielt die Schweiz nur eine Nebenrolle. Während letztes Jahr die Schweizer Oscar-Selektion «Reinas» in Park City uraufgeführt wurde, ist an der diesjährigen Ausgabe die Doku «GEN_» die einzige Schweizer Produktion.
Darin begleiten wir einen Mailänder Arzt, der Paare mit Kinderwunsch berät und trans Menschen in ihrer Transition unterstützt. Eine zweckdienliche Doku über eine empathische Persönlichkeit.
Der unabhängige Film in der Krise
Wenig ergiebig ist der diesjährige Spielfilmwettbewerb. Einen neuen Quentin Tarantino oder Steven Soderbergh – beide hatten am Sundance ihren Karrieredurchbruch – sucht man vergebens.
Dennoch sorgt Eva Victor mit «Sorry, Baby» für Aufsehen. Ihr Debütfilm über einen sexuellen Übergriff besticht durch natürliche Dialoge und Zurückhaltung statt Pathos. Er findet noch während des Festivals für 8 Millionen US-Dollar einen Abnehmer.
Auch Netflix schlägt zu und sichert sich «Train Dreams» mit der Oscar-nominierten Schauspielerin Felicity Jones – für 15 Millionen US-Dollar. Die poetische Erzählweise des Films scheint auf den ersten Blick jedoch ein seltsamer Kandidat für das Heimkino.
Die Tendenz ist klar: Streamingdienste und Filmverleihe reissen sich nicht mehr um Independent-Filme – die Zahl der grossen Akquisitionen sinkt seit Jahren.
Das zeigt sich auch bei «The Perfect Neighbor», dem wohl besten Film des Festivals. In diesem Dokumentarfilm wird ein Nachbarschaftsstreit durch Bodycam-Aufnahmen der Polizei rekonstruiert. Seine Dringlichkeit hätte eine breite Veröffentlichung verdient – zum Zeitpunkt des Festivalendes konnte jedoch noch kein Käufer gefunden werden.
Geleakte Sexszenen
Seit der Coronapandemie sind Teile des Festivals online verfügbar. Was bislang unproblematisch verlief, sorgt dieses Jahr für die grösste Kontroverse.
Fans der 1995 ermordeten Kultsängerin Selena stellen kurz nach der Premiere Clips aus der Doku «Selena y Los Dinos» auf TikTok. Wenig später erwischt es auch die gelungene Komödie «Twinless»: Hier sind es die expliziten Sexszenen, die ihren Weg auf Fanaccounts von Hauptdarsteller Dylan O’Brien finden.
Das Festival reagiert umgehend: Beide Filme werden aus dem Online-Programm entfernt. Wer ein Ticket hat, schaut in die Röhre.