Giulia Tonelli schwebt über die riesige Bühne im pompösen Zürcher Opernhaus. Der zarte Stoff ihres Kleides weht um ihren durchtrainierten, zierlichen Körper. Alle Scheinwerfer sind auf sie gerichtet.
Dann ein Schnitt. Im weissen Strickpullover steht Giulia am Küchentisch und faltet Babykleidung. Die Tänzerin Mitte 30 ist vor kurzem Mutter eines Sohnes geworden. Fast ein Jahr musste sie ihre Karriere pausieren. Jetzt will sie zurück auf die Bühne.
Regisseurin Laura Kaehr begleitete die Tänzerin für ihren Dokumentarfilm «Becoming Giulia» drei Jahre lang auf ihrem Weg. Im Herbst gewann sie dafür den Publikumspreis des Zürich Film Festivals.
Der Tanz um die Vereinbarkeit
Die 45-jährige Tessinerin ist selbst ausgebildete Balletttänzerin. «Viele meiner Kolleginnen mussten sich entscheiden – Kind oder Karriere», erzählt sie. «Giulia wollte beides. Dafür liebe ich sie. Das war der Ausgangspunkt für den Film.»
«Becoming Giulia» zeigt Giulias Rückkehr auf die Bühne in eindrucksvollen Bildern. Der Film thematisiert die Schmerzen, die ihr der Körper nach elf Monaten Pause und einer Geburt bereitet.
Oft geht es um die Schwierigkeiten, Traumberuf und Wunschkind unter einen Hut zu bringen, ohne dass eines von beiden zu kurz kommt.
«Eltern sind in solchen Institutionen nicht eingeplant», erklärt die Regisseurin Laura Kaehr. Giulia Tonellis Trainingsplan nimmt etwa keine Rücksicht darauf, dass sie lieber früher anfangen möchte, um früher wieder zu ihrem Sohn zu kommen.
Keine Lust auf naive Mädchenrollen
Doch auch Giulias Freude und ihre Leidenschaft fürs Ballett werden deutlich. «Mein Sohn bereichert mein Leben. Er berührt mich – mehr als das Ballett», sagt sie im Dokumentarfilm. «Aber ich habe meine eigene Identität vermisst. Meine Identität als Giulia.» Ihr Kind habe ihr neue Inputs fürs Tanzen gegeben.
So möchte sie nicht mehr immer nur das naive junge Mädchen spielen, wie etwa die Rolle der Julia in Shakespeares Tragödie. Giulia wünscht sich anspruchsvollere, tiefgründigere Rollen, die mehr ihrem wahren Alter entsprechen. Doch solche zu finden, ist nicht einfach.
Die Macht haben meist Männer
«Die Choreografen sind meistens Männer. Hier beginnt schon das Problem», sagt die Regisseurin. Giulia will das so nicht akzeptieren. Sie setzt sich in Verbindung mit der Choreografin Cathy Marston.
Gemeinsam arbeiten die beiden an Stücken mit mehr Tiefgang. Zum Beispiel «A Scarlett Letter» über eine Frau, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt.
Was während der Dreharbeiten noch niemand ahnt: Cathy Marston wird ab der Saison 2023/2024 neue Ballettdirektorin und Chefchoreografin des Balletts Zürich.
Konkurrenzdruck als Motor
«Becoming Giulia» bietet einen spannenden Einblick hinter die Kulissen der Ballettwelt. Dabei umgeht die Doku die gängigen Klischees. Körperwahn und Konkurrenzdruck werden höchstens angetönt.
«Natürlich gibt es Rivalität und Eifersucht im Ballett», so Regisseurin Kaehr. «Sie sind wichtig, sie sind Motoren, um besser zu werden. Giulia hat gesagt: Der Moment, in dem sie aufhöre zu kämpfen, könne sie diesen Job aufgeben.»
Giulias Kampf steht im Zentrum des Dokumentarfilms. Der Kampf nach einem Leben nach den eigenen Regeln. Die Suche nach Möglichkeiten, dies zu verwirklichen. Der Weg, die zu werden, die sie sein will – «Becoming Giulia» eben.
Kinostart: 23. März 2023