Beginnen wir mit A wie Ani. Mit dieser Koseform ihres exotischen Vornamens stellt sich die blutjunge Titelheldin jeweils den Kunden vor. Die selbstbewusste US-Amerikanerin verdient sich ihren Lebensunterhalt als Stripperin, Lap-Dance-Attraktion und Gelegenheits-Escort.
Trotz reichlich Kundschaft ist die von Mikey Madison hinreissend gespielte Anora chronisch knapp bei Kasse. Zumindest bis ihr Vanya, der erlebnisdurstige Sohn eines russischen Oligarchen, ein Leben in Saus und Braus in Aussicht stellt.
Klingt ganz nach einseitigen Machtverhältnissen, die leicht ins Missbräuchliche kippen könnten. Doch Ani lässt sich nichts gefallen, kennt ihre Rechte und fordert diese auch ein. Mehr noch: Sie geniesst die nie zu enden scheinende Party mit dem grosszügigen Vanya, welche nach 45 Filmminuten in einer Las-Vegas-Hochzeit mündet.
Fucking wild, fucking funny
Anders als «Pretty Woman» peilt «Anora» mit seinem von Luxus und Liebe erhitzten Gefühlsbad aber kein kitschiges Happy End an. Sean Bakers Dramödie inszeniert das emotionale Hoch seiner beiden Hauptfiguren vielmehr als flüchtige Gipfelerfahrung. Danach geht’s dank maximaler Fallhöhe ratzfatz bergab.
Vanyas Eltern sind von der Blitzheirat des flatterhaften Filius mit einem «Schmetterling der Nacht» – gelinde gesagt – nicht gerade begeistert. Der steinreiche Paterfamilias betraut darum zunächst seine Handlanger vor Ort mit der delikaten Angelegenheit. In der Hoffnung, dass «das Problem mit dem Ehebetrug» schon gelöst sei, wenn er in seinem Privatjet im Land der unbegrenzten Möglichkeiten landet.
Doch wie gesagt: Anora kennt ihre Rechte und hält munter dagegen. In der Folge fliegen – sehr zum Vergnügen des Publikums – die Fäuste und Fetzen. Im Unterschied zu Vanya lässt sich Ani nämlich nicht so leicht von seinen herbeigeeilten Aufpassern einschüchtern. Ani ist nicht any girl. Sie ist eine Löwin, die ihren Gatten lautstark zum Widerstand animiert: «Be a fucking man!»
Gebrochene Herzen, ungebrochene Menschlichkeit
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Tonalität des zutiefst menschlichen Dramas ganz klar in Richtung Komödie verschoben. Wenn Mikey Madison als walkürenhafter Wirbelwind Anora voll aufdreht, entwickelt der Film einen frischen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Wer die Karriere von Regisseur und Autor Sean Baker verfolgt, weiss um dessen Gespür für aberwitzige Situationen und präzises Timing. Bereits «Tangerine» (2015) und «Red Rocket» (2021) waren urkomische Milieustudien. Mit «Anora» hat der 53-Jährige nun aber punkto Gagdichte ein neues Niveau erreicht. Nur was die dramatische Wirkung betrifft, bleibt seine Sozialstudie «The Florida Project» (2017) unerreicht.
Pulsierend bis zum bittersüssen Ende
Ähnlich wie in Sean Bakers früheren Filmen wachsen einem auch in «Anora» die Figuren mächtig ans Herz. Sogar diejenigen, die erst später auftauchen und auf den ersten Blick wie reine Funktionsträger wirken. Typen wie der unscheinbare Igor zum Beispiel, der als Mann fürs Grobe eingeführt wird. Der aber – getragen von Yura Borisovs nuancierter Schauspielkunst – zum feinfühligen Sympathieträger avanciert.
Das Finale im nächtlichen New York ist eine atemlose Jagd, welche einen stimmigen Kontrast zur entschleunigten Schlussszene bildet. Und falls noch Zweifel am Drive bestehen sollten: Ja, «Pretty Woman» hat Sean Bakers wilder Ritt längst abgehängt.
Kinostart: 31.10.2024