Abseits der Leinwand, so heisst es, seien Frauen in Cannes immer noch dem sexistischen High-Heel-Zwang auf dem roten Teppich unterworfen. Dass es auf der Leinwand anders zugeht, belegt unsere Auswahl emanzipierter Cannes-Beiträge.
«The Substance»: Ein radikaler Blick auf Frauenkörper
Das feministische Body-Horror-Drama der französischen Regisseurin Coralie Fargeat schockierte und faszinierte Kritik und Publikum gleichermassen – und erntete nach der Premiere starke 13 Minuten Standing Ovations.
«The Substance» wirft einen radikalen Blick auf den weiblichen Körper, der schwer auszuhalten ist. Der Film handelt von einer alternden TV-Fitnesstrainerin, gespielt von Demi Moore. Mit einer obskuren medizinischen Behandlung versucht sie, die perfekte Version ihrer selbst zu erschaffen. Dafür verdoppelt sie sich in eine junge Frau (Margaret Qualley) und eine alte Frau, die sich alsbald bitter und brutal bekämpfen. Es wird monströs und unglaublich blutig.
Die Horrorsatire ist visuell grossartig, lustig und grotesk. Und passt perfekt zu Cannes: Hier kann man jeden Abend auf dem roten Teppich und in den Gassen erleben, wie der Jugendwahn die Körper und Gesichter verwüstet. Es werden genau jene Werte zelebriert, die der Film ad absurdum führt.
«Diamant brut»: Im Tiktok-Rhythmus der Heldin
Der erste Langspielfilm der knapp 40-jährigen französischen Regisseurin Agathe Riedinger erzählt ebenfalls eine Geschichte über Körperbilder, aber jünger, wilder und roher. In der Hauptrolle: die hinreissende Laiendarstellerin Malou Khebizi.
Die 19-jährige Liane ist der titelgebende «Rohdiamant» und eine Möchtegern-Influencerin. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester an der Côte d’Azur, jedoch weitab von Glitzer und Ruhm. Besessen von Schönheit und dem Willen, etwas aus sich zu machen, sieht sie Tiktok als Möglichkeit, um geliebt zu werden.
Das Schicksal scheint ihr endlich hold zu sein, als sie an einem Casting für die Reality-Show «Miracle Island» teilnimmt. Den ganzen Film hindurch wartet sie verzweifelt auf eine Rückmeldung. Lässt sich aber – ganz «moderne Kriegerin» – nicht unterkriegen.
«Diamant brut» ist schnell und direkt, im Tiktok-Stil. Der Film übernimmt den Rhythmus, in dem seine Heldin denkt, lebt und sich in Bildern inszeniert. Das ist atemlos, aktuell und geht dank der energiegeladenen Hauptdarstellerin ans Herz. Neuartig für Cannes, ein Geheimtipp.
«Anora»: Mit Grips und Witz gegen das Sexarbeit-Stigma
Anora, genannt Ani (Mikey Madison), ist eine junge Sexarbeiterin aus Brooklyn. Sie lernt den verwöhnten, aber charmant-grosszügigen Ivan (Mark Eydelshteyn), Sohn eines russischen Oligarchen, kennen.
Sie lässt sich auf ihn ein – gegen Bezahlung, aber auch aus Sympathie. Ohne nachzudenken heiratet sie ihren Märchenprinzen. Als diese Nachricht Russland erreicht, reisen Ivans Eltern nach New York mit der Absicht, die Ehe annullieren zu lassen.
Aber Ani wehrt sich mit vollem Körpereinsatz, Grips und Witz. Sie schreit, tanzt und schlägt sich in die Herzen der Zuschauer. Doch Regisseur Sean Baker («The Florida Project») unterhält nicht nur mit Slapstick und Humor. Seine Tragikomödie hat auch ein hehres Anliegen. Baker möchte das Stigma der Sexarbeiterinnen auflösen: «Es ist der Körper einer Sexarbeiterin, und es liegt an ihr zu entscheiden, wie sie ihn für ihren Lebensunterhalt nutzt.»