Wem oder was kann man heute noch glauben? Simon Jaquemets tiefschürfendes Psychodrama «Der Unschuldige» trifft traumwandlerisch sicher den Nerv der Zeit. Im Zentrum steht oder strauchelt Ruth: eine gestandene Frau im freien Fall.
Dabei hätte sie mindestens drei Dinge, an die sie sich klammern könnte. Erstens: an ihren Job als wissenschaftliche Laborantin. Zweitens: an ihre Rolle als Mutter zweier Teenager-Töchter. Drittens: an ihren christlichen Glauben. Schliesslich sind Ruth und ihr Mann Mitglieder einer evangelikalen Freikirche.
Wer ist hier schuld, wer verrückt?
All diese Dinge, die ihr lange Halt gegeben haben, beginnen sie urplötzlich einzuengen. Schuld daran ist ihre grosse Liebe, der titelgebende «Unschuldige».
Der sass die letzten 20 Jahre im Gefängnis. Für einen Mord, den er wohl gar nicht begangen hat. Ganz genau wissen wir das nicht. Weil wir als Zuschauer die Welt stets aus der Perspektive von Ruth sehen. Und die scheint gerade komplett den Verstand zu verlieren.
Ein Traum als Inspiration
Wie kommt man auf die Idee, eine solch vertrackte Geschichte zu erzählen? Autorenfilmer Jaquemet gibt uns in seinem Zürcher Atelier Auskunft: «Die Grundidee lieferte mir ein simpler TV-Bericht über eine reale Begebenheit: Ein Mann wurde zu einer lebenslangen Strafe verurteilt. Dessen Verlobte glaubte unbeirrt an dessen Unschuld. Diese Frau ging mir jahrelang nicht mehr aus dem Kopf.»
Mehr noch: Im Schlaf begann Jaquemet sogar, sich mit ihr zu identifizieren. Ein Traum, den er aus ihrer Sicht erlebte, inspirierte ihn schliesslich zu seinem Filmprojekt: «Ich wollte mich während einer Predigt vor dem Pfarrer einer Freikirche verstecken. Der wiederum spürte mein Verlangen, mich unsichtbar zu machen. Plötzlich streckte er seine Hand nach mir aus. Als er mich berührte, brach ich zusammen.»
Filmische Traumlogik
Für den 40-Jährigen sind Kinofilme geradezu dafür prädestiniert, beunruhigende Träume wie diesen in Bilder zu fassen. Schon sein Erstling «Chrieg» besass eine hypnotische Kraft, die den Realismus des Dramas transzendierte.
Mit «Der Unschuldige» hat der stilsichere Visionär nun den nächsten Schritt gewagt: Die Persönlichkeitsstudie ist noch radikaler, noch subjektiver, noch fordernder als sein gefeiertes Kinodebüt. Das ist konsequent und bewundernswert, hat aber einen Haken: Gross Kasse kann man mit einem solch anspruchsvollen Kunstwerk in der Schweiz kaum machen.
Dessen ist sich Jaquemet absolut bewusst: «Es ist ganz klar, dass dieser Film nicht eine Million Zuschauer in die Kinos locken wird. Dafür ist er zu sperrig. Ein grosser Teil des Publikums wird den Film schwierig finden. Andere werden ihn lieben, weil er einem viel Raum für Interpretationen lässt.»
Traumziel Toronto
Für die Festivals sind Dramen mit einem solchen Profil dagegen ideal. Bereits für «Chrieg» erntete Jaquemet viel internationalen Beifall: Das Jugenddrama feierte in San Sebastián Premiere, bevor es in Marrakesch und Saarbrücken mit je zwei Preisen zu den grossen Gewinnern gehörte.
Lässt sich das toppen? Höchstens mit einer Einladung in den Wettbewerb eines Topfestivals wie Berlin, Cannes oder Venedig. Oder mit einer Weltpremiere in Toronto, wo bekanntlich das grösste Filmfestival Nordamerikas stattfindet.
Letztgenannter Traum ging für Jaquemet kürzlich in Erfüllung: «Der Unschuldige» lief im September in Torontos renommierter Sektion «Platform». Wenig später durfte sich Jaquemet im Hauptwettbewerb von San Sebastián mit internationalen Regieikonen messen: Naomi Kawase, Claire Denis und Brillante Mendoza.
Noch nicht am Ende der Träume
Simon Jaquemet hat mit seinem zweiten Kinofilm also schon viel erreicht. Am Ende seiner Träume ist der Kreativkopf aber noch lange nicht. Zumal ihm eine wichtige Auszeichnung weiterhin fehlt: der Schweizer Filmpreis. «Chrieg» war 2015 fünffach nominiert, erhielt schlussendlich aber nur den Quartz für die «Beste Kamera».
Bei der nächsten Verleihung im März könnte es klappen. Verdient hätte Simon Jaquemet den Hauptpreis für «Der Unschuldige» allemal. Obwohl die Spielfilm-Konkurrenz so hart sein dürfte, wie seit Jahren nicht mehr: Dank dem Publikumshit «Wolkenbruch» und dem Festivalliebling «Der Läufer», die ebenfalls gute Karten haben.
Doch zurück ins Jetzt: Zunächst einmal freuen wir uns über diesen ungewöhnlich starken Schweizer Filmherbst. Auf dass «Der Unschuldige» allen Skeptikern den Glauben an das einheimische Kino zurückgeben möge!
Kinostart: 31.10.2018