«La Mif» ist französischer Slang und bedeutet «Familie». Das erklären die Bewohnerinnen des Jugendheims der Heimleiterin Lora (Claudia Grob). Viele der Mädchen haben in diesem Heim zum ersten Mal so etwas wie eine Familie gefunden.
Warum sie hier gelandet sind, erfährt das Publikum durch eine raffinierte Erzählweise erst nach und nach. Auch die Beziehungen, die sie zueinander und zu ihren Betreuerinnen und Betreuern haben, werden dadurch immer deutlicher.
Der Regisseur kennt die Hauptdarstellerin
Das Aussergewöhnliche: Fast alle Darstellerinnen stehen für «La Mif» zum ersten Mal vor der Kamera.
Der Genfer Filmemacher Fred Baillif setzte bewusst auf Laiendarstellerinnen. Claudia Grob, welche die Heimleiterin Lora spielt, kennt er von einem früheren Praktikum. Vor 20 Jahren machte Fred Baillif eine Ausbildung zum Sozialarbeiter.
«Die meisten Szenen spielen sich in einem echten Jugendheim ab», erzählt er. «Ein Ort, der es uns ermöglichte, flexibel mit natürlichen Schauspielerinnen in einer ihnen vertrauten Umgebung zu arbeiten. Dadurch verschwimmen die Grenzen zum Dokumentarfilm und der Schauplatz wird zu einem wesentlichen Aspekt der Geschichte.»
Keine Dialoge, keine Finanzierung
Der Filmemacher führte Gespräche mit den Bewohnerinnen und dem Personal des Heims. Sie gaben ihm Einblicke in ihr Leben und ihre Geschichte. In Workshops erarbeiteten sie über zwei Jahre hinweg gemeinsam die Figuren. «Die Schauspielerinnen wurden sozusagen zu Co-Autorinnen.»
Für den Film gab es keine geschriebenen Dialoge, sondern nur den Film-Plot und einige Pointen. Der Rest ist Improvisation. Das führte zu Problemen, denn ohne Dialoge erhielt Fred Baillif anfangs keine konventionelle Finanzierung für sein Projekt.
«Da wir aber bereits zwei Jahre am Film gearbeitet hatten und die Mädchen heranwuchsen, entschlossen wir uns, ‹La Mif› trotzdem zu drehen», sagt Baillif.
Die Dreharbeiten dauerten schliesslich etwas mehr als zwei Wochen. Die Geschichte konnte an die Leistung und die Wünsche der Laien-Schauspielerinnen angepasst werden. Mit der ersten groben Version des Film konnte Fred Baillif schliesslich auch die Finanzierung sichern.
Unterstützt wurden die Schauspielerinnen am Set von drei professionellen Schauspielern, die alle Sozialarbeiter spielen. Zwei von ihnen haben auch im wahren Leben einen Hintergrund in der Sozialarbeit.
«Sie spielten eine Schlüsselrolle bei der Improvisation und halfen den nicht-professionellen Schauspielerinnen, Selbstvertrauen zu gewinnen», sagt der Filmemacher. «Diese verschiedenen Protagonisten trugen alle dazu bei, andere Themen in die Geschichte einzubringen, was ja der Zweck dieser Vorgehensweise ist.»
Fünf Nominationen für den Schweizer Filmpreis
Das Ergebnis ist berührend und beeindruckend. An der Berlinale und am Zurich Film Festival hat «La Mif» bereits wichtige Preise gewonnen.
Ausserdem ist er fünfmal für den Schweizer Filmpreis nominiert. Darunter Claudia Grob in der Kategorie Beste Hauptdarstellerin und die beiden jungen Laiendarstellerinnen Charlie Areddy und Anaïs Uldry in der Kategorie Beste Nebendarstellerin.
Die Lorbeeren für den Erfolg will Regisseur Fred Baillif aber nicht allein einheimsen. Er vergleicht das Filmemachen mit seiner Zeit als Profi-Basketballspieler: «Da war es meine Aufgabe, meinen Mitspielern zu helfen, besser zu spielen. Das ist genau das, was ich heute als Filmregisseur versuche.»
Seine Mitspieler seien Laienschauspielerinnen und -schauspieler, sagt Baillif. «Meine Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen, das auszudrücken, was sie manchmal lange Zeit verbergen.»
Kinostart: 17. März 2022