Hauptpreise gab es schon in Venedig und bei den Golden Globes, mehr werden folgen: Dieser Film wird jetzt schon als das Kinoereignis des noch jungen Jahres gefeiert.
«Poor Things», arme Dinger, damit sind die monströsen Kreaturen gemeint, die der Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter erschafft. In seinem Haus laufen allerlei Zwitterwesen herum, ein Hund mit Gänsekopf, ein Huhn mit dem Kopf eines Schweins – und eine Frau mit dem Gehirn eines Babys.
Für Baxter ist das Leben ein unendliches Forschungsfeld, eine lustvolle Spielwiese, auf der nichts unmöglich ist. Sein Vater hat ihm das beigebracht – und ihn selbst als Forschungsobjekt missbraucht. Mit seinem vernarbten Gesicht ist Baxter Forscher und Kreatur zugleich: Dr. Frankenstein und Frankensteins Monster in einem.
Schamloses Wunderwesen
Baxters Meisterwerk heisst Bella. Geschaffen hat er sie aus einer Selbstmörderin, die er aus der Themse gezogen hat und ihrem ungeborenen Baby, dessen Hirn er der Toten einpflanzt. Zunächst stolpert nun dieses Wunderwesen sprachlos und unkoordiniert durch Baxters Haus.
Nach und nach und mithilfe des liebevollen Assistenten Max McCandles lernt sie sprechen, gehen, essen. Nur das mit der züchtigen Scham versteht Bella nicht: Sie stürzt sich mit grosser Lust in die Entdeckung ihres Körpers und ihrer Sexualität. Max verliebt sich in Bella, aber sie büxt mit dem schleimigen Anwalt Duncan Wedderburn aus, um die Welt zu entdecken.
Experimentell und surreal
Erzählt ist diese Geschichte in einem surrealen Setting – in einer verfremdeten viktorianischen Zeit – die Bilder sind entweder schwarzweiss oder knallbunt, kulissenhaft überzeichnet, mit Anklängen an Steam Punk, Comicwelten, aber auch an das frühe expressionistische Kino.
Emma Stone ist schlicht umwerfend, wie sie als neugierige und schamlose Bella die Welt entdeckt und Duncan nach und nach in den Wahnsinn treibt, weil er ihrer Direktheit, ihrem Tempo und ihrer Schlagfertigkeit nicht gewachsen ist.
Als sich Bellas Wissensdurst schliesslich von der Sexualität weg hin zur Welt des Wissens, zur Philosophie, wendet, ist Duncan sauer. Sie lese ja nur noch, sagt er zu ihr auf einer langen Schiffsreise, und verliere deshalb ihren Reiz.
Sie verändere sich eben, wie alle, antwortet Bella, und im Übrigen stehe er ihr vor der Sonne. In diesen Satz packt die inzwischen reichlich belesene Bella die ganze Emanzipations- und Aufklärungsgeschickte: vom antiken Diogenes über Voltaire bis zu den Feministinnen der Gegenwart.
Immer wieder erfindet der Grieche Yorgos Lanthimos («The Lobster», «The Favourite») sein Kino neu, experimentiert mit Erzählformen und Bildsprache. «Poor Things» ist in seiner Verrücktheit der vorläufige Höhepunkt seines Schaffens.
Die irre Geschichte Bellas ist ein wohltuend freches und modernes Bildungsepos, ein fulminantes Plädoyer für Aufklärung, in dem Werke wie Voltaires «Candide», Mary Shelleys «Frankenstein» und viele mehr anklingen.
Schamlos lustig, wohltuend klug
«Poor Things» ist schamlos lustiges und wohltuend kluges Kino, voller Frechheiten und Esprit. Vorwerfen könnte man dem Film allenfalls, dass er bei allem Irrwitz doch ein etwas altmodisches Verständnis von westlichem Bildungsbürgertum transportiert.
Trotzdem – die Lorbeeren für den experimentierfreudigen Griechen sind berechtigt: So irre gutes Kino wie «Poor Things» gibt es selten genug zu sehen.
Kinostart: 18. Januar 2024