Jedes Kind kennt den Mann mit dem Zweispitz. Aber nur wenige Menschen wissen über Napoleon Bescheid. Sir Ridley Scott, der Schöpfer cineastischer Meilensteine wie «Alien», «Blade Runner» oder «Gladiator», gehört offenbar nicht dazu.
Das findet zumindest Thomas Schuler, der seit 20 Jahren über Napoleon forscht und schon mehrere Sachbücher über den Korsen verfasst hat. «Rein historisch ist der Film eine absolute Katastrophe», hält der deutsche Historiker klipp und klar fest.
Falsche Fahnen, krachende Kanonen
Die Fehlerorgie beginne schon in der ersten Szene, der Hinrichtung von Marie-Antoinette: «Da sind die von den Gebäuden herabhängenden Trikoloren alle falsch herum aufgehängt.» Was wir hier sehen, ist nicht die französische, sondern die holländische Flagge. Zudem war der 24-jährige Napoleon – anders als im Film – damals gar nicht in Paris.
Doch damit nicht genug: «Bei der Schlacht von den Pyramiden», fährt Schuler fort, «schlagen die Granaten mit der Wucht von modernen Artilleriegranaten» in die antiken Bauwerke ein. Das mache eine Kanonenkugel im Jahre 1798 nicht.
Schulers Mängelliste ist schier endlos. An dieser Stelle möge daher ein drittes Beispiel reichen: «Bei der Schlacht von Austerlitz sieht man einmal einen russischen Soldaten, der etwas raucht. Das sieht so ähnlich aus wie eine Zigarette. Doch die kam erst 50 Jahre später nach Europa.»
Wildes Auf und Ab auf dem Feld
Für den Geschichtsunterricht eignet sich der inakkurate Historienfilm also schlecht. Am besten bedient Scotts «Napoleon» all jene, die im Kino gerne abtauchen. Denn atmosphärische, exotische und pompöse Bilder bietet der Zweieinhalb-Stünder quasi à discrétion.
Zum Beispiel, wenn sich der von Joaquin Phoenix facettenreich gespielte Emporkömmling am 2. Dezember 1804 selbst zum Kaiser krönt. Und die Kathedrale Notre-Dame mit seiner Gravitas beglückt: «Ich fand die Krone Frankreichs in der Gosse. Ich hob sie auf mit der Spitze meines Schwertes. Und nun setze ich sie auf mein eigenes Haupt.»
Exakt ein Jahr später wird er als eiskalter Stratege Geschichte schreiben. In der atemberaubend inszenierten Schlacht bei Austerlitz trickst er den numerisch überlegenen Feind mit einer taktischen List aus.
Später zeigt Scott auch Napoleons Fall, inklusive der letzten Schlacht. Die gab der Gemeinde Waterloo bekanntlich erst ihre sprichwörtliche Bedeutung als Ort der ultimativen Niederlage.
Wildes Auf und Ab in der Liebe
Scott beleuchtet nicht nur Napoleons Militärkarriere. Auch dessen Liebesleben – genauer: die Ehe mit der frivolen Kaiserin Joséphine (Vanessa Kirby) – nimmt im Film viel Platz ein. Gezeigt wird deren Beziehung als erstaunlich ausgeglichener, aber letztlich toxischer Machtkampf.
Historiker Thomas Schuler hält diese Darstellung der kaiserlichen Ehe für unplausibel. Zumal er Napoleons Liebesbriefe an Joséphine «mit zum zärtlichsten, sprachlich feinsinnigsten» zählt, das je an eine Frau geschrieben worden sei. Regisseur Sir Ridley Scott hat selbige Texte ganz anders gelesen: «Seine Liebesbriefe sind auf komische Art grob und jugendlich unreif. Voller überbordender Romantik und zugleich ziemlich schmutzig.»
Wer von den beiden recht hat, ist letztlich Geschmackssache. Darum soll dieser Text mit Napoleons echter Grussformel an Joséphine enden: «Einen Kuss aufs Herz. Und dann noch einen auf eine Stelle weiter unten – viel weiter unten.»
Kinostart: 23.11.2023