Zu Beginn sitzt Lissy (die einmal mehr grossartige Corinna Harfouch) wortwörtlich in der Scheisse. Ihr dementer Mann Gerd hat die Wohnung wieder einmal ohne Hose und Unterhose verlassen. Und weil Lissy selbst krank ist, kann sie kaum mehr aufstehen vom verkackten Teppich.
Nein, das ist nicht lustig
Matthias Glasners «Sterben» ist keine Komödie. Diese ersten Szenen des Films fahren ziemlich ein, unter anderem darum, weil Glasner und seine Darstellenden den komischen Aspekten nicht ausweichen.
Dass Lissy mit ihren verdreckten Händen einen Anruf von ihrem Sohn Tom entgegennehmen muss, ist scheusslich. Aber Corinna Harfouchs Blick auf das Telefon, als sie es an der Nase vorbei ans Ohr führen muss, der ist auch irgendwie hinreissend.
Der Sohn hat eigentlich gar keine Zeit für seine Mutter. Das hört sie schnell, als er erklärt, er habe eben ein Kind zur Welt gebracht. Und so fragt sie ihn denn nur pflichtschuldig, ob es Mutter und Kind gut gehe.
Elektroauto behindert Waldverstreuung
Mutter und Sohn können nicht so richtig miteinander am Telefon. Sie können es überhaupt nicht so miteinander, wie wir später erfahren. In einer der absurdesten Konfessionsszenen, die das deutsche Kino je hervorgebracht hat: Am Esstisch in der Wohnung der Eltern bei Kaffee und Kuchen, als Tom eben die Waldverstreuung der Asche seines Vaters verpasst hat, weil das Elektroauto die Strecke über Land nicht verkraftete.
Auf schmalem Grat
Tom ist Dirigent, er arbeitet in Berlin an der Uraufführung der Komposition seines besten Freundes. Das Stück heisst «Sterben» und es muss, in den Worten des Komponisten, auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunstkomposition wandeln.
«Der schmale Grat» ist auch ein Kapitel des Films. Und wir dürfen konstatieren: «Sterben» gelingt der Balanceakt in einigen glorreichen Momenten. Die erleben wir, wenn Ellen ins Spiel kommt.
Verkatert in die Zahnarztpraxis
Ellen (Lilith Stangenberg) ist Toms jüngere Schwester und attraktive Alkoholikerin und Dentalassistentin. Zu Beginn ihres Kapitels wacht sie verkatert in einem anderen Land auf, schafft es dann aber noch rechtzeitig in die Zahnarztpraxis.
Ihrem Zahnarzt-Lover (Ronald Zehrfeld) erklärt sie, sie habe einen Beruf gewollt, den alle hassen: um das Gegenteil des Wow-Effekts zu erreichen, den ihr Dirigentenbruder stets auslöse.
«Sterben» ist erschöpfend – aber befriedigt
In dieser fragmentierten Nacherzählung könnte das alles auch eine Klamotte sein. Aber Glasners Film hat den grossen Atem und den Kunstwillen, der ihn zu etwas Bleibendem macht.
Allein schon die Probenszenen für das Stück «Sterben», mit Orchester und Kinderchor, samt neurotisch selbstverzweifelndem Komponisten sorgen dafür, dass sich der Film nie so ernst nimmt, dass das Publikum darauf verzichten könnte.
Nach drei Stunden und drei Minuten entlässt uns «Sterben» erschöpft und auf vertraute Weise befriedigt. Denn vieles, von dem, was da auf uns eingeprasselt ist, kennen wir. Und bei etlichem davon sind wir froh, es nicht in dieser Heftigkeit zu kennen.
Ein deutscher Film, der den «schmalen Grat» nicht nur zu benennen weiss, sondern ihn auch meistert. Das ist mehr als der «Furz ins Gesicht der Avantgarde» als den ein Kritiker die Komposition «Sterben» nach ihrer definitiven, postumen Uraufführung bezeichnet.