Seine Dokumentarfilme veränderten den Blick auf die Urschweiz. Mit viel Eigensinn, Witz und Widerstand wurde Fredi M. Murer zu einer Integrationsfigur des Schweizer Films. Und sein «Höhenfeuer» aus dem Jahr 1985 gilt bis heute als einer der stärksten und eigenwilligsten Schweizer Spielfilme überhaupt.
Mit dem liebevoll radikalen, leisen und eindringlichen Inzest-Drama köpfte Murer die Alpengipfel der «Heidi»-Romantik. Er hörte den Berglern ganz genau zu. Und er blickte noch genauer hin in die Welt, in der er aufgewachsen war. Genau das machte diesen Film zum Weltkino.
Schweizer Ikone des Films
Murer hatte sich für «Höhenfeuer» am japanischen Kino der 1950er- und 1960er- Jahre orientiert. Er hatte seine Geschichte aus Island mitgebracht und sie mit der Akribie des Ethnologen nicht einfach verpflanzt, sondern neu aus den kargen Alpwiesen wachsen lassen.
Eine echte Geschichte mit echten Menschen – in diesem Fall jene von zwei Bauernkindern, die nur sich selbst haben – funktioniert eben überall.
Das Echo der Kindheit
Murers erster grosser Triumph, nach mehr als zehn experimentellen Kunstfilmen, war 1974 der Dokumentarfilm «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind».
Statt mit vorgefassten Meinungen, Expertenstimmen und Statistiken die medial unterrepräsentierten Innerschweizer auf die Leinwand zu hieven, hörte er ihnen zu, liess sie erzählen und dokumentierte ihre Existenz – immer mit dem Echo der eigenen Kindheit, einer Mischung aus Geborgenheit, schulischer Versagensangst und anarchischem Trotz.
Film als Ausweg für Legastheniker
Denn als der sechsjährige Alfred Melchior Murer mit seiner Familie aus dem Kanton Nidwalden in den Kanton Uri zügeln musste, kam ihm das vor wie die Entführung in einen abgelegenen Fjord. Nicht nur der Dialekt der neuen Mitschülerinnen und Mitschüler war deutlich rauer. 46 Buben in einer einzigen Klasse machten es für den schweren Legastheniker auch nicht einfacher.
Das liebevolle Elternhaus mit etlichen älteren Geschwistern sorgte dafür, dass sich der kleine Fredi im Erzählen, Träumen und Zeichnen der Welt trotz allem öffnen konnte. So sehr, dass er mit 16 die hohen Täler verliess und nach Zürich ging, um Zeichner zu werden, Weltentwerfer, Fotograf und schliesslich Filmemacher als Autodidakt.
Die Schweiz als Dreh- und Angelpunkt
Eigentlich war und ist es immer der Blick zurück, der Fredi M. Murers Filmkunst zu ihrer Grösse verhalf. Der Blick des einstigen Berglers von Zürich aus zurück in die alte Heimat. Der Blick auf die Schweiz, geöffnet über Aufenthalte in London, den USA, Island und vielen Reisen.
Der Blick des Menschen, der anderes gesehen hat und darum das eigene erkennt. Denn seine Filme hat Fredi Murer immer in der Schweiz gemacht. Mit der Schweiz.
Ob er nun mit «Höhenfeuer» die Japaner begeisterte, mit «Grauzone» (1979) die Zürcher Packeis-Zeit und den Fichen-Skandal vorwegnahm oder mit «Vollmond» (1998) Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung.
Oder mit «Vitus» (2006) mit Bruno Ganz und dem hochbegabten Teo Gheorgiu die eigenen Wunderkind-(Alp-)Träume in einem Alter realisierte, in dem andere pensioniert werden.
Fredi M. Murer hat im künstlerischen Freundeskreis angefangen, mit der Zürcher Version des «cinéma copain». Er ist der grosse Integrator geblieben, als Präsident des Filmgestalterverbandes, als Gründungspräsident der Schweizer Filmakademie.