Das Abenteuer beginnt in Interlaken Ost, an der Bushaltestelle des Postautos 103. Es ist früher Vormittag, mitten in der Woche. Ich warte auf den nächsten Bus nach Iseltwald. Mit mir warten bereits einige Touristinnen und Touristen aus Asien, aber auch Einheimische.
«Ich weiss nicht, wie der nächste Bus sein wird», ereifert sich eine alte Frau. «Aber am Nachmittag ist es manchmal furchtbar.» Dann sei der Bus so voll, dass man kaum Platz zum Stehen finde.
Als das Postauto 103 kommt, finden alle Wartenden mühelos Platz. Auch die alte Frau: Sie ergattert sogar einen Sitzplatz. Ob das dem Kurswechsel der Postauto AG geschuldet ist? Die Linie 103 hat in den Sommermonaten vom Stunden- auf den Halbstundentakt erhöht, um den vielen zusätzlichen Reisenden mehr Platz zu bieten.
Serienhotspot Seeufer
Seit die südkoreanische Netflix-Serie «Crash Landing on you» ein Hit geworden ist, strömen etliche Touristinnen und Touristen zu den Schweizer Drehorten des Dramas. Der Steg in den Brienzersee in Iseltwald ist ein solcher Hotspot. Ebendieser Steg spielt nämlich in der Serie eine grosse Rolle.
Deswegen treffe ich im Bus auch Mia, eine Südkoreanerin aus Seoul, und ihre Mutter. «Ich habe den Ort über die Serie kennengelernt», erklärt mir die 22-Jährige. «Ich will dorthin und ein Selfie machen.»
Nach 21 Minuten Fahrt durch grüne Landschaften und entlang des Brienzersees erreichen wir das Ziel: «Iseltwald Dorfplatz», verkündet die Postautostimme. Sofort steigen alle aus und suchen den Steg auf ihren Handykarten. Dieser ist einfach zu finden, bloss ein paar Schritte vom Dorfplatz entfernt.
Iseltwald sieht aus wie aus dem Bilderbuch. Blumen schmücken die alten Holzhäuser. Auch am Seeufer ist das Ambiente malerisch: Der Holzsteg führt zu einer kleinen Plattform über den Brienzersee, der türkisblau in der Sonne schimmert.
Schlangestehen am Selfie-Steg
Bereits haben sich gut 20 Menschen eingefunden und stehen Schlange. Es sind mehrheitlich Touristinnen aus asiatischen Ländern, aber auch von anderswo. Hier wartet auch die 21-jährige Ji-Yoon aus Südkorea mit ihren Eltern und weiteren Verwandten. Sie ist bereits aufgeregt, denn auch sie will Fotos machen, um sie auf ihrem Instagram-Profil zu posten.
Der männliche Star der Netflix-Serie, der Schauspieler Hyun Bin, hat es ihr angetan: «Er ist so schön», schwärmt sie. Die ganze Familie lacht.
Die Anstehenden erzählen mir, dass in der berühmten Iseltwalder Szene ebendieser Schauspieler in der Rolle eines nordkoreanischen Offiziers am Steg Piano spielt, während seine Liebe, eine südkoreanische Geschäftsfrau, mit dem Schiff auf ihn zufährt.
Wie im Fotostudio
Unterdessen wird am Steg fleissig posiert. Die üblichen Aufnahmen von vorne, von hinten, von der Seite. Oder: zu zweit aneinander gelehnt wie in der berühmten Einstellung in «Crash Landing on You».
Jetzt ist Roselle an der Reihe. Die 30-jährige Philippinerin arbeitet in Dubai als Marketingleiterin. Sie ist mit ihrer Tante angereist. Stolz zeigt sie mir ihre Ohrringe und die Sonnenbrille. Filmstar Son Ye-jin trägt als Hauptfigur in der Serie die gleichen: «Ich kaufe alles nach, was sie trägt, das ganze Outfit!»
Roselle mag koreanische Serien: «Sie sind so kreativ.» Eines der Fotos, das ihre Tante gemacht hat, leitet sie mir gleich weiter.
Bald werden es auch ihre Follower sehen. Das Licht am Brienzersee ist ideal: Als wären wir in einem gigantischen Fotostudio.
Roselle und ihre Tante reisen den Schweizer Drehorten der Serie nach. Bereits waren sie in Zürich, nach erfolgreicher Tat in Iseltwald gehts für die beiden weiter zur Panoramabrücke in Sigiriswil.
Ein überrumpeltes Dorf
Unterdessen ist es Mittag geworden. Immer wieder legen Kursschiffe an. Eben spuckt die «Lötschberg» weitere selfiewillige Touristinnen und Touristen aus. Sie reihen sich in die Warteschlange ein.
Während vorne am Steg die immergleichen Fotos mit wechselnder Besetzung geschossen werden, begebe ich mich in den Dorfladen. Er befindet sich unweit der Postautohaltestelle im ehemaligen Hotel Bären.
Hier treffe ich die Coiffeuse Nicole Cantanna. So begeistert die Gäste, so überrumpelt die Bevölkerung. «Es ist ja schon schön, wenn sie hierherkommen», sagt Cantanna, die im Dorf einen eigenen Salon betreibt.
«Aber wenn all diese Cars ebenfalls auf dem Dorfplatz fahren, gibts ein Durcheinander.» Drei bis vier solche Cars pro Tag kommen manchmal nach Iseltwald – zusätzlich zu den Individualtouristen.
An diesem Tag bleiben die Cars jedoch aus. Das ist vielleicht der Wetterprognose geschuldet: Es wurden Gewitter angekündigt. Schweizer Himmelsdrama verträgt sich schlecht mit der Inszenierung von koreanischem Liebesglück.
Weltberühmte Serienminute
Die Bevölkerung sei vom Ansturm der Selfiewilligen regelrecht überrollt worden. «Begonnen hat es bereits letztes Jahr, aber nicht in diesem Ausmass», wirft Christine Kaufmann ein. Die Pensionierte sitzt an der Kasse und amtet in dieser Funktion zugleich als lokale Touristen-Infostelle.
«Crash Landing on You» habe sie nicht geschaut, erzählt sie. «Wir haben mal den Ausschnitt gesucht», ergänzt Cantanna. Eine Minute habe er gedauert. «Und wegen dieser einen Minute kommen sie hierher.»
Als die südkoreanische Filmcrew die Szenen am Ufer des Brienzersees gedreht hat, ging sie schauen: «Sie hatten eigene Schiffe, die hierhergefahren sind. Dann ist die Frau ausgestiegen, und der Mann ist am Klavier gesessen», so die Coiffeuse. «Und dann haben sie es noch schneien lassen – mitten im September!»
Viel Abfall, kaum Einkäufe
Die Szene hat ihre Wirkung auf die Serienfans nicht verfehlt. «Jetzt stehen sie für ihre Fotos hier an wie beim Skilift», kommentiert Kaufmann von der Kasse her.
Die Selfie-Fans sind Tagesgäste, die nur kurz in Iseltwald bleiben: «Im Dorfladen kaufen sie kaum ein, hinterlassen aber am Ufer viel Abfall.» Die Stadtreinigung müsse Überstunden machen.
Für einen Augenschein gehe ich erneut zum Steg. Eben ist Kevin dabei, die Abfallkübel zu leeren. Er ist im ersten Lehrjahr Unterhalt. «Dieses Jahr ist es verrückt: So viele Leute in den vollen Postautos», sagt er. Dann beginnt er, den Uferweg zu säubern.
Am Steg treffe ich auch meine südkoreanische Busbekanntschaft Mia wieder. Stolz zeigt sie mir die Fotos, die sie unterdessen mit ihrer Mutter am Steg aufgenommen hat. Sie ist zufrieden: «Iseltwald ist in Realität ja noch schöner als im Film!» Zumindest für die Touristinnen und Touristen.