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Gaming für die Persönlichkeitsentwicklung – im Sommerlager
Aus Audio Aktuell SRF 3 vom 15.08.2024. Bild: Tanja Eder
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Inklusiver Gamingkurs Wo Kinder beim Gamen ungeahnte Stärken entdecken

Im «Cooltour»-Sommercamp spielen Kinder mit und ohne Einschränkung gemeinsam Videospiele. Was bringt das – und wie steht es um die Barrierefreiheit in der Gamewelt?

«Am meisten hat mir das Kochspiel gefallen», sagt ein Mädchen am Ende dieses sonnigen Nachmittags in einem umfunktionierten Restaurant in der Stadt Bern. «Einmal hat die Küche gebrannt!»

Am Ende des Kurstages bleibt den Kindern vor allem der Spass in Erinnerung – so soll es auch sein. Dass sie nebenbei an ihrer Persönlichkeitsentwicklung, an Fähigkeiten wie Teamgeist und Kreativität und an einem inklusiven Umgang mit anderen Kindern gearbeitet haben, merken sie kaum.

Kinder sitzen vor einer Leinwand. Darauf ist eine merditerane, mittelalterliche Stadt mit vielen Türmen zu sehen.
Legende: Robin präsentiert seine Stadt, die er am Morgen mit «Townscaper» entworfen hat. Zu Hause spielt er am liebsten Shootergames. Hier entdeckt er seine kreative Seite. Tanja Eder

Das ist die Magie von Videospielen: Sie machen Spass, bauen Brücken und bieten damit eine ideale «Lernarena», wie Kursleiterin Cristina Gerber erklärt.

Kinder entdecken ihre Superkräfte

Cristina Gerber vom Netzwerk Grenchen entwickelt Ansätze, wie Gaming in der Arbeitsintegration eingesetzt werden kann, um Stärken zu finden und zu fördern.

Rund 15 Kinder aus dem «Cooltour»-Sommercamp erhalten an diesem Tag eine kindgerechte Variante des Programms. Sie wählen ihre Avatare und benennen ihre «Superpower». Ein Mädchen zum Beispiel ist besonders hilfsbereit, ein anderes kann besonders gut zeichnen.

Fünf Kinder verschiedenen Alters und eine kurzhaarige Frau sitzen um einen Tisch, vor jedem ein Blatt und Post-Its.
Legende: Das Spielen ist nur die halbe Miete: Die Kinder müssen das Gelernte auch reflektieren. Was sind meine Träume? Was sind meine Stärken? Wo kann ich diese im Alltag einsetzen? Tanja Eder

Im Spiel lernen sie, ihre «Superpower» einzusetzen. Am Morgen gestalten sie eine eigene Stadt auf der Nintendo Switch, die sie dann ihren «Gspändli» präsentieren. Am Nachmittag ist freies Spiel angesagt. Die einen messen sich im «Mariokart» oder im «Let’s Dance», andere kochen zusammen in «Overcooked».

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Gamen im inklusiven Sommercamp
44:58 min
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Coaches unterstützten sie dabei, erklären die Spiele und ermutigen dazu, mehr zusammenzuarbeiten. Letzteres ist gar nicht so einfach: Schliesslich kennen sich die Kinder nicht, unterscheiden sich in ihrem Alter und haben zum Teil kognitive Beeinträchtigungen. Doch beim gemeinsamen Gamen wächst man schnell zu einem Team zusammen, Unterschiede sind bald vergessen.

Arbeitsintegration dank Gaming

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Gaming nutzen, um Skills für den künftigen Job oder den Alltag zu entwickeln. Das Netzwerk Grenchen hatte die Idee vor fast drei Jahren. Seither tüfteln Projektleiterin Cristina Gerber und ihre Kollegen im Rahmen des Pilotprojekts LevelHub+ an den Methoden.

Der Schwerpunkt liege auf den sogenannten «Future Skills», Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft gefragt sind: zum Beispiel Teamfähigkeit, Kreativität und Lösungsfindung. Diese «Skills» wollen sie beim Videospielen entdecken, stärken, reflektieren und in den Alltag übersetzen. Um schlussendlich diese Stärken bei der Jobsuche zu vermarkten.

«Man erreicht schnell eine Tiefe im Gespräch, die ich im Coaching vorher nicht erlebt habe», erzählt Cristina Gerber. «Denn wir sprechen nicht über Erfahrungen von vor vier Wochen. Sondern das passiert im Moment, im Jetzt.»

Cristina Gerber sieht genau darin eine der Stärken von Games im Coaching: «Egal mit welchem Hintergrund man kommt, sobald man gemeinsam ‹gamet›, etwas gemeinsam erlebt, kann man gemeinsam diskutieren und reflektieren.»

Menschen mit Defiziten merken: Ich bin nicht ausserhalb.
Autor: Marc Lehmann Netzwerk Grenchen, Mitglied der Geschäftsleitung

Auch ihr Kollege Marc Lehmann, der sich selbst als «Nicht-Gamer» bezeichnet, hat besonders in der Arbeit mit Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten positive Erfahrungen mit Videospielen gemacht: «Das hat viel mit Selbstwert zu tun. Menschen, die sich anderswo ausgegrenzt vorkommen, können in einem Game mithalten. Es gibt Beziehungen, eine gemeinsame Sprache. Das fördert Menschen mit Defiziten. Sie merken: Ich bin nicht ausserhalb.»

Gaming schlägt Brücken

Beim «Cooltour»-Sommerlager kommen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung zusammen. Kinder, die noch nie mit Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen zu tun hatten, treffen auf Kinder, die seit Jahren eine Sonderschule besuchen. Für beide Seiten ist es eine neue Erfahrung, auf Augenhöhe zusammenzutreffen und inklusiv an der Aare zu zelten und gemeinsam Kurse wie diesen zu besuchen.

Man sieht zwei Jungs und ein Mädchen von hinten. Sie schauen auf eine Leinwand, auf der sie Mariokart spielen.
Legende: Spiele wie «Mariokart» seien die besten Eisbrecher, sagt Spezialistin Cristina Gerber. Tanja Eder

Gaming schlägt hier mit Leichtigkeit eine Brücke. Gerade Spiele wie «Mariokart» sind für Menschen von Jung bis Alt und verschiedenste Fähigkeitslevels geeignet. In Kooperationsspielen wie «Overcooked» kann das Kind mit Trisomie 21 ebenso zum Erfolg der Gruppe beitragen wie die erwachsene Studentin.

Die Idee hinter dem «Cooltour»-Sommerlager

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Kinder mit und ohne Beeinträchtigung auf Augenhöhe zusammenbringen – mit dieser Idee wurden die «Cooltour»-Camps vor rund 20 Jahren entworfen.

«Wir wussten damals noch nicht, ob es funktionieren kann», sagt Gründer Jonas Staub. «Das Wort Inklusion kannte man damals noch nicht.»

Im Sommercamp zelten rund 65 Kinder zusammen in Bern an der Aare und belegen Kurse wie Streetdance, Skaten, Töpfern oder eben Gaming. Dabei lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung spielerisch, fast nebenbei, miteinander umzugehen. Am Ende haben alle etwas davon:

«Teilweise hilft ein 17-Jähriger mit Beeinträchtigung einem 10-Jährigen ohne Beeinträchtigung», erzählt Jonas Staub. «Für das Kind geht da eine neue Welt auf.»

Zur Organisation Blindspot gehören neben den Sommer- und Wintercamps mittlerweile auch mehrere Gastrobetriebe und zwei inklusive WGs. «Es war eine logische Fortführung der Camps», so Jonas Staub.

Später könne diese Erfahrung den Kindern helfen, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, hofft der Campgründer Jonas Staub: «Viele junge Menschen mit Beeinträchtigung, die vielleicht in eine Sonderschule gehen, machen hier erstmals wirklich positive Erfahrungen mit Inklusion: ‹Ich bin jemand, ich gehöre voll dazu. Es wird auch etwas verlangt von mir, ich werde nicht über-betreut oder für schwach befunden. Ich habe eine Verantwortung›.»

Gamen ohne Barrieren

Games sind ganz grundsätzlich inklusiv. Hier kann jede und jeder ein Flugzeug fliegen oder die Karibik entdecken. Theoretisch. Denn leider sind viele Games noch nicht barrierefrei. Es geht aber in die richtige Richtung: Immer häufiger gibt es «Accessibility»-Einstellungen im Spiel, zum Beispiel Untertitel oder vereinfachtes Gameplay, oder auch spezielle Hardware wie anpassbare Controller.

Dass Games immer zugänglicher werden, ist eine erfreuliche Entwicklung. Im Internet berichten Jugendliche und Erwachsene mit körperlicher oder kognitiver Einschränkung, was ihnen Gaming als Hobby alles gibt: Soziale Teilhabe in online Communitys, eine Freizeitbeschäftigung, bei der sie nicht auf Hilfe angewiesen sind oder Erfolgserlebnisse.

Das gibt es in der Sonderschule nicht.
Autor: Jonas Staub Gründer und Geschäftsleiter von Blindspot

Zudem gehört Gaming heute einfach dazu, sie sind eines der wichtigsten kulturellen Medien unserer Zeit: Über 65 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer spielen ab und zu ein digitales Spiel. So wie Sport, Lesen oder Reisen ihren Platz in unserem Leben haben, gehören heutzutage auch die Videospiele dazu.

Das sollte für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung genau gleich gelten, betont Jonas Staub: «Wir hatten schon oft Kinder mit Beeinträchtigung, die sich genau für das Gaming angemeldet haben, weil sie sagten: ‹Das gibt es bei uns in der Sonderschule nicht. Bei uns gibt es Leben in der Natur, Erfahrungen mit Wolle, Arbeiten mit Holz … hier gibt’s Gamen›. Sie denken: ‹Endlich gibt’s das mal für mich!›»

Im Gaming steckt viel Potenzial

Man kann Gamen verteufeln – oder man kann es nutzen, meint Marc Lehmann: «Mir ist bewusst geworden, dass das bei vielen Menschen – von Jung bis Alt – einen grossen Teil der Freizeit ausmacht. Das ist Potenzial, das brachliegt.»

Risiken und Nebenwirkungen

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Natürlich hat Gaming – wie alles Schöne im Leben – auch seine Schattenseiten.

Gaming kann süchtig machen, das ist inzwischen als «Gaming Disorder» von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Krankheit anerkannt.

In Gratisspielen lauern Glücksspielmechanismen und andere Tricks, die uns zum Geldausgeben bringen wollen. Und bei Onlinespielen drohen Gefahren wie Online-Bullying, toxische Communitys oder sogar Grooming.

Gaming deshalb zu verteufeln, wäre aber falsch. Es bietet viele Vorteile und macht auch sehr viel Spass.

Beim Zentrum für Spielsucht finden Sie weitere Informationen zum Thema Gamesucht.

Die Inklusionsspezialisten und Pädagoginnen sehen Potenzial. Die Kinder sehen an diesem Nachmittag in Bern vor allem den Spass.

«Und was hat euch heute nicht gefallen?», fragt Kursleiterin Cristina Gerber. «Dass wir aufhören mussten», ruft ein Junge.

Barrierefreier Spielspass

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