Es scheint, als ob jede Generation ihren eigenen medialen Bösewicht hat. Bücher waren einmal «böse». Der Fernseher auch. Videogames sind es noch immer. Nicht mehr ganz so schlimm wie früher, aber immer noch diskussionswürdig.
Games sind ein Leitmedium unserer digitalen Zeit.
Bei SRF-Digitalredaktor Guido Berger hat die Videogame-Karriere mit «Bruce Lee» begonnen, einem «Haudrauf»-Spiel. Eine Kategorie, die neben «Ballerspielen» die meiste Kritik einsteckt. Seither ist grafisch viel passiert und die Begeisterung für Games hat nicht abgenommen – im Gegenteil.
«Games sind ein Leitmedium unserer digitalen Zeit und deshalb finde ich es traurig, wenn Leute sich nicht damit befassen», sagt Berger. Viele würden dadurch etwas Wichtiges verpassen.
Verblödung durch Videospiele?
Das negative Image von Videospielen hält sich jedoch hartnäckig: Sie seien Zeitverschwendung und würden die Jugend verblöden.
Vor allem «Shooter-Games» waren lange der Anstoss zum Aufschrei. Und wenn heute Geballer aus dem Kinderzimmer dröhnt, sind manche Eltern immer noch wenig begeistert. «Fortnite» und «Valorant» etwa sind zwei Ballerspiele, die aktuell beim Nachwuchs besonders gut ankommen.
Führt Gaming zu Aggressionen?
So manche Studie hat versucht, den Bezug von Spielen, in denen viel Gewalt vorkommt, und tatsächlicher, realer Gewalt herzustellen. Eine Meta-Analyse der «Royal Society», der britischen Akademie der Wissenschaften, von 2020 hat 28 solcher Studien zu dem Thema unter die Lupe genommen. Mit dem Resultat: Ein Zusammenhang zwischen Shooter-Games und jugendlicher Aggression besteht nicht.
Für Schlagzeilen sorgt diese Erkenntnis jedoch nicht – weil sie nicht besorgniserregend ist. Für ein Maximum an Aufmerksamkeit ist es deutlich dienlicher, den Zusammenhang zwischen Games und Gewalt etwas zu überspitzen. Hier greift der sogenannte «publication bias».
Denn wenn ein Studienergebnis statistisch nicht signifikant ist, wird es oft gar nicht erst publiziert. Solche Analysen landen und bleiben dann «in der Schublade». Mitunter werden gewisse Sachverhalte lieber etwas unwissenschaftlich stark betont, damit es doch eine Schlagzeile gibt. Doch es gibt ganz andere Aspekte, die beim Gaming problematisch sind.
Der Suchtfaktor
Der nächste Dopaminausschuss ist immer nur ein paar Spielsekunden entfernt. Das nächste Level ist immer griffbereit, wenn man doch nur ein paar Minuten weiterspielt. Das animiert besonders Kinder und Jugendliche. Damit auch jeder und jede die Möglichkeit hat, angefixt zu werden, sind viele Games gratis.
Guido Berger sagt: «Heute redet man von ‹Game as a Service› und gibt dir zuerst ein Gratis-Game. Danach soll man durch ständige Updates immer wieder zurückkommen.» Man habe die konstante Möglichkeit, dafür auch jedes Mal wieder Geld auszugeben.
Nur wenige Gamer sind von einer echten Sucht betroffen. Man geht davon aus, dass es um die fünf Prozent sind, die spielerisches Suchtverhalten zeigen. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) sagt, dass die Häufigkeit einer solchen Spielsucht je nach Land zwischen 1.3 und 9.9 Prozent variiert. Standardisierte Messmethoden seien noch nicht gleich stark verbreitet.
Diagnose: «Gaming Disorder»
Die «Gaming Disorder» ist offiziell im ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) gelistet. In aller Kürze ist sie folgendermassen definiert: «Als spielsüchtig gilt man, wenn man über einen Zeitraum von 12 Monaten die Kontrolle über das Spielverhalten verliert, andere Lebensbereiche vernachlässigt, und sich damit selber schadet.»
Jugendliche müssten beispielsweise die Schule, die Lehrstelle sowie soziale Kontakte über einen längeren Zeitraum vernachlässigen, um an der «Gaming Disorder» zu leiden – oder als süchtig bezeichnet zu werden.
Es wird noch explizit erwähnt, dass man kein Suchtverhalten diagnostizieren soll, wenn jemand häufig spielt, aber die negativen Auswirkungen ausbleiben. In den Ferien und ab einem bestimmten Alter könne auch mehr gespielt werden, ohne dass dies krankhaft sei.
Eine neuere nationale Studie von Sucht Schweiz zum Gesundheitsverhalten von 11- bis 15-Jährigen geht davon aus, dass nur rund drei Prozent der Spielerinnen und Spieler einen problematischen Konsum aufweise.
Der Profigamer
Manuel Oberholzer verdient mit Gaming sein Geld. Er hat die Agentur MYI Entertainment mitgegründet und ist spezialisiert auf alles, was mit Gamen zu tun hat.
In meinen Augen ist jeder, der in irgendetwas zu den besten der Welt gehört ein Süchtiger.
Auf die – zugegebenermassen negativ gefärbte – Frage, ob man nicht ein bisschen übertreiben müsse, um in einem Spiel wirklich gut zu sein, entgegnet er: «Würdest du die Frage auch einem Profisportler stellen? Wahrscheinlich nicht, aber in meinen Augen ist jeder, der in irgendetwas zu den besten der Welt gehört, ein Süchtiger.»
Vermutlich hat er mit seiner Einschätzung recht: Einen Profisportler oder eine Profisportlerin würde man so etwas nicht unbedingt fragen. Aber wer zum Beispiel 100 Meter unter zehn Sekunden läuft – oder sonst in einer Sportart Weltklasse ist – ist wohl ein wenig «süchtig» – und das ist hier im umgangssprachlichen Sinn gemeint.
Big Business
Ein weiterer Vorbehalt gegenüber dem Gaming ist, dass die Anbieter – vor allem bei Online-Games – Abzocke betreiben würden. Klar wollen die Spielehersteller Geld verdienen. Gemäss der Statistik-Plattform Statista wurden in der Game-Industrie 2022 geschätzte 347 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Doch sie wollen auch Geld mit Kindern verdienen.
Dafür gehen die Spieleentwickler geschickt vor und operieren teilweise am Rande der Legalität. Eines dieser problematischen Angebote sind sogenannte «Lootboxen»: In-App und In-Game Käufe sind das Businessmodell. Und es funktioniert.
Epische Strafen
Die Grenze zum Glücksspiel ist bei Videospielen in den vergangenen Jahren immer mehr verschwommen. Nicht jeder Dollar ist ehrlich verdient.
So musste etwa «Epic Games», die Herstellerin des beliebten «Fortnite»-Games, eine Rückzahlung in Höhe von 245 Millionen Dollar leisten, weil sie mit «Dark Patterns» Leute zu ungewollten Käufen verleitet hat.
Es war auch nicht das erste Mal, dass «Epic Games» tief in die Kampf-Kasse greifen musste. Insbesondere Kinder und Jugendliche möchte man natürlich vor diesen heimtückischen Mechanismen der Gaming-Industrie bewahren.
Besserer Schutz Minderjähriger
2024 tritt daher in der Schweiz schrittweise ein neues Gesetz in Kraft, das Minderjährige vor Medieninhalten in Filmen und Videospielen schützen soll, welche ihre Entwicklung gefährden könnten. Namentlich geht es um die Darstellung von Gewalt, Sexualität und bedrohlichen Szenen.
Teil davon ist eine gut sichtbare Alterskennzeichnung sowie die Inhaltsdeskription. Videospiele mit Filmen gleichzusetzen, ist aber nicht ganz einfach. Denn Games haben mit den In-App-Käufen, Lootboxen und Dark Patterns eben andere Mechanismen.
Ein Spiel kann harmlos sein in Bezug auf Sexualität und Gewalt, aber den «Süchtig-Mach-Faktor» beinhalten. Ausserdem passiert das meiste Online und ist damit noch einmal schwieriger zu regulieren.
«Wenn man wirklich eine griffige Altersbeschränkung machen will, dann müsste man ein Alterssystem haben, das aussagekräftig ist», sagt SRF Digitalredaktor Guido Berger. Doch das habe die Schweiz nicht. «Und ich glaube auch nicht, dass wir das haben werden.»
Wenn man die Leute beim Online-Kauf zum Hinterlegen von IDs zwingen würde – so wie es in China gehandhabt wird – insbesondere, wenn dies auch Kinder betreffen würde, dann würde das problematisch mit dem Datenschutz. So weit sind wir nicht.
Eltern müssen einen grossen Schritt machen, um zu verstehen, wie Games funktionieren.
Guido Berger appelliert an die Verantwortung der Eltern: «Ich glaube, man wird darauf beharren müssen, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, zu entscheiden, was für ihre Kinder tauglich ist und was nicht. Das heisst, dass Eltern einen grossen Schritt machen müssen, um zu verstehen, wie Games funktionieren.»
Es ist ja bekanntlich nie zu spät, etwas dazuzulernen. Es würde sicher nicht schaden, wenn Eltern einmal selbst den Controller in die Hand nehmen und mit ihrem Kind zusammen spielen würden. Das kann äusserst lehrreich und durchaus spassig sein.
Sowieso: Es gamen mehr Menschen als die meisten wohl meinen. In einer Studie von MYI – jener Agentur, die sich auf Gaming spezialisiert hat – kam heraus, dass sechs von zehn Menschen in der Schweiz mindestens einmal in der Woche gamen.
Dazu gibt es rund zwei Millionen «Core Gamers», also solche, die etwas motivierter spielen und das mindestens zweimal in der Woche tun – mit insgesamt zehn Stunden. Zusammengefasst spielen also sehr, sehr viele Menschen ganz, ganz viele Videogames.
Sexismus im Gaming
Frauen und Männer machen das übrigens in etwa gleich oft. Wobei die Spiele und die Spielweise sich schon ein wenig unterscheiden. Ob das an der Sozialisierung liegt oder geschlechtsspezifisch ist, das ist eine andere Diskussion.
Auf jeden Fall sind die «Wettkampf-Gamer» hauptsächlich männlich. Also jene Gruppe, die mit ungefähr fünf Prozent auch nur einen kleinen Teil der Gesamt-Gamerschaft ausmacht und an Turnieren mitspielt.
Da sind Frauen untervertreten. Auch, weil online immer noch ungefilterter Sexismus grassiert. Man geht davon aus, dass drei von vier Frauen beim Online-Gamen Sexismus erfahren.
«Apeks», ein norwegisches eSports-Team hat dazu einen eindrücklichen Versuch gemacht. Dabei wurde während des Online-Gamings die Stimme eines Spielers mithilfe eines «Voice Changers» so verändert, dass sie weiblich klingt. Die Konsequenz? Er kassierte reihenweise schlimmste Beschimpfungen.
Aber Achtung: Der Rückschluss, dass Gaming Sexismus fördert, wäre ebenfalls etwas voreilig. Das wäre dann wieder wie beim Gewalt-Rückschluss, den wir bereits überwunden haben. Halbstarke Sexisten tummeln sich leider gerne in der Anonymität des Internets – und da kommen Online-Games gelegen.
Bereit für den Selbstversuch?
Gamen ist nicht nur unproblematisch, das ist klar. Aber wohl auch nicht so schlimm, wie viele vermuten. Wenn denn 95 Prozent der Gamer und Gamerinnen keine Süchtigen sind und das spielerische «Rumgeballer» auch keine Amokläufe provoziert, dann wäre es doch an der Zeit, auch die positiven Aspekte einmal hervorzuheben.
Wie diesen: Gamen ist ein soziales Ereignis.
Heute kann man beim Gamen einfach spielerisch online verbunden sein. Das entspannt und baut Stress ab. Nicht zu vergessen, dass bei Videogames auch der Durchhaltewille und das Selbstvertrauen gestärkt werden können. Es gibt auch knifflige Spiele, bei denen die Hirnwindungen beansprucht werden.
Eine Erfahrung von vielen
«Wenn wir mit Entwicklungspsychologen reden, dann sagen sie nie, man dürfe so und so viel – oder so und so wenig – spielen. Kinder, sollen möglichst viele, unterschiedliche Erfahrungen machen», sagt Guido Berger.
Wenn ein Kind eine vielfältige Jugend hat und ein paar Erfahrungen finden an Bildschirmen statt, dann ist es wahrscheinlich unproblematisch.
Wenn ein Kind also ausschliesslich eine Erfahrung mache, sei das nicht gut. «Aber wenn ein Kind eine vielfältige Jugend hat und ein paar Erfahrungen finden an Bildschirmen statt, dann ist es wahrscheinlich unproblematisch.»
Und falls man zur Seite der skeptischen Eltern gehört – oder die Erfahrung mit dem Gamen eben einfach bislang nicht gemacht hat – dann wäre es doch, im Sinne der Vielfältigkeit, höchste Zeit, dies nachzuholen.