Die Schweiz bezeichnet sich gern als «Wiege der Demokratie». Die Hälfte der Bevölkerung schloss sie aber bis 1971 von der Mitbestimmung aus. Die Schweiz war bekanntlich eines der letzten Länder der Welt, das auch seinen Mitbürgerinnen demokratische Rechte zugestand.
Der Blick ins Ausland zeigt, dass aber gerade frühe Demokratien sich anfänglich meist als reines Männergeschäft verstanden. Frankreich etwa schloss seine Frauen 96 Jahre, die USA 50 Jahre vom Wahlrecht aus.
Vom Uterus bestimmt
Um den Ausschluss zu verstehen, muss man Demokratiegeschichte auch als Körpergeschichte erzählen, schreibt die deutsche Historikerin Hedwig Richter in ihren Büchern zur Entwicklung der Demokratie.
Nicht nur wurde in pseudowissenschaftlichen Studien behauptet, Frauen hätten ein schwächeres Gehirn und seien vom Uterus bestimmt und deshalb für Politik denkbar ungeeignet.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden beispielsweise in den USA die Wahlen auch als regerechte Sauf- und Prügelspektakel inszeniert. Korrupte Wettspiele, Raufereien und Hetzjagden gegen Afroamerikaner waren Teil des mehrtätigen Wahlgaudis.
Natur der Dinge
Es lag, um einen Begriff des französischen Soziologen Pierre Bourdieu aufzunehmen, in der «Natur der Dinge», dass Frauen von solchen Wahlen ausgeschlossen blieben. Erst als Ende des 19. Jahrhunderts die einsetzenden Reformdiskurse die Gesellschaft veränderten, wurde es denkbar, auch Frauen einzubeziehen, sagt Richter.
Viele Reformen bezogen sich auf den Körper, etwa auf Kleidung, Wohnung, Gesundheit, und gipfelten in Rassenhygiene und Volksgesundheit, die später entsetzlich Karriere machten.
In New York fanden die Stimmabgaben 1916 erstmalig ausschliesslich in öffentlichen Gebäuden statt. Die Polizei sorgte für Sicherheit und Hygiene und ermöglichte auch Frauen den Zugang zur Urne.
Der Fall Brunner
Die politische Instrumentalisierung des Frauenkörpers zeigte sich in der Schweiz auch im sogenannten «Brunner-Skandal»: Die als Bundesrätin nominierte Christiane Brunner wurde 1993 aufgrund eines vorher zirkulierenden anonymen Schreibens nicht gewählt, das sie des Schwangerschaftsabbruchs bezichtigte und behauptete, ein Nacktfoto der Kandidatin zu besitzen.
Auch heute noch wird mit dem Frauenkörper Politik gemacht. Denken wir an die Verschärfungen des Abtreibungsrechts in Polen, mit dem ein konservatives Frauenbild zementiert werden soll, oder an die jüngsten Debatten um Kamala Harris Kleidung.
Frauen, die ihre Stimme erheben und sich durchsetzen, werden weiterhin gern als «Mannsweib» bezeichnet und in ihrer Weiblichkeit diskreditiert.
Wer gehört zum Volk?
Letztlich geht es dabei immer um den Versuch, Frauen aus Machtgeschehen auszuschliessen. Gefährlich wurden der herrschenden Klasse aber nicht nur die Frauen, sondern auch andere unterdrückte Gesellschaftsschichten. In einigen Ländern wurde den Frauen sogar früher das Wahlrecht gewährt als ausgeschlossenen ethnischen Gruppen.
Die Geografin Joni Seager nennt in ihrem Frauenatlas etwa Australien, das 1902 das Frauenwahlrecht einführte, die Aborigines jedoch bis 1962 von der politischen Mitbestimmung ausschloss.
Kanada liess die Frauen ab 1918 mitbestimmen, die indigene Bevölkerung durfte erst ab 1960 wählen. In Südafrika durften weisse Bürgerinnen ab 1930 zur Wahl, indisch stämmige erst 1984 und schwarze sogar erst 1994.
Demokratie ist immer ein Kampf darum, wer zum diesem «Volk», das die Regeln macht, dazu gehört. Der Körper wird dabei bis heute noch als Vorwand benutzt, um Ein- und Ausschluss zu begründen.