Zum Inhalt springen
Audio
China-Korrespondent Samuel Emch zu 75 Jahren Volksrepublik China
Aus Audio SRF 1 vom 01.10.2024. Bild: IMAGO/ABACAPRESS/PANTHERMEDIA, Collage: SRF
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 2 Sekunden.

75 Jahre Volksrepublik China Taiwan-Frage und Kontrollzwang: Platzt der «Chinesische Traum»?

Unter Xi Jinping strebt China nach globaler Dominanz – doch der geplante Durchmarsch gerät ins Stocken. Zum 75. Geburtstag der Volksrepublik zieht eine China-Kennerin Bilanz.

Unter Staatspräsident Xi Jinping strebt China an, sich als militärisch und wirtschaftlich erstarkte Grossmacht global zu positionieren. Doch diese Vision ist zunehmend von Herausforderungen bedroht.

Ein entscheidender Wendepunkt in Chinas jüngerer Geschichte war Xis Machtübernahme im Jahr 2012. Mit seinem Konzept des «Chinesischen Traums» verfolgt er das Ziel, China bis zum Jahr 2049 – dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik – zu einer führenden Weltmacht zu machen.

China mit eigenen Augen

Lea Sahay lebte lange Zeit in China – zunächst als Schülerin, dann als Studentin und schliesslich als Journalistin.

Lea Sahay

China-Korrespondentin der «Süddeutschen Zeitung»

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Lea Sahay lebte viele Jahre in China. In ihrem neuen Buch «Das Ende des chinesischen Traums» zieht sie eine vorläufige Bilanz.

Sie erlebte den gesellschaftlichen Wandel hautnah und schildert in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Das Ende des chinesischen Traums», wie ein Land, das einst von unbegrenztem Wachstum träumte, nun von der Realität eingeholt wird.

Feindbilder: Medien und USA

Xi hat das Narrativ einer feindseligen Aussenwelt, insbesondere der USA, verstärkt, um viele der inneren Probleme Chinas zu erklären. Die USA werden als der Hauptakteur dargestellt, der Chinas Aufstieg behindern möchte.

Auch für Medienschaffende ist die Arbeit in China kein Zuckerschlecken: Als ausländische Journalistin unterliegt Lea Sahay in China strengen Auflagen.

Person hält Rede vor rotem Hintergrund.
Legende: Ein Mann, viel Macht: Xi Jinping will der Volksrepublik China Flügel verleihen – sieht sich jedoch mit Gegenwind konfrontiert. IMAGO / Kyodo News

Sie wird regelmässig ins Aussenministerium zitiert, um bei einer Tasse Tee «konstruktive Gespräche» zu führen. Dabei werden kritische Berichte oft als Provokation dargestellt, die angeblich eine Gegenreaktion aus der Bevölkerung hervorrufen. In Wahrheit verfolgt die Kommunistische Partei seit Jahren eine zunehmend aggressive Haltung gegenüber ausländischen Medien und versucht, die Berichterstattung gezielt zu beeinflussen.

Lea Sahay erinnert sich an eine Episode aus ihrer Zeit als Austauschschülerin, die die Kontroll-Hysterie der Partei beispielhaft illustriert: «An einem Wochenende fuhr ich zum Platz des Himmlischen Friedens, zog aus meiner Tasche ein Stück Papier, auf dem der Name unseres Fussball-Vereins aus Norddeutschland stand. Dazu der Spruch ‹Nun auch in China›. Es war als Scherz gemeint, doch es dauerte nur Sekunden, bis Sicherheitskräfte in schwarzen Uniformen mich gepackt und mir das Schild aus der Hand rissen.»

Wirtschaftliche Stagnation und Kontrollzwang

Die anfängliche Euphorie über Chinas scheinbar grenzenlose wirtschaftliche Expansion ist verflogen. Anfangs wurden vielversprechende Start-ups grosszügig gefördert. Die Partei hielt sich weitgehend aus der Unternehmensführung heraus. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet.

Linientreue Parteikader sitzen in den Führungsetagen vieler Unternehmen und überwachen deren Aktivitäten – was viele als Innovationsbremse empfinden. Dieser zunehmende Kontrollzwang hat dazu geführt, dass sich die junge Elite aus Städten wie Shanghai abwendet und neue Chancen im Ausland sucht.

Keine Lust auf Leistung und Konsum

In Reaktion auf den steigenden sozialen und wirtschaftlichen Druck entwickeln sich neue Trends in der chinesischen Gesellschaft: «Rùn» beschreibt das Phänomen, dass Menschen versuchen, China zu verlassen, um anderswo ein besseres Leben zu führen.

Ein weiteres Schlagwort ist «Tang Ping» – zu Deutsch etwa «flach liegen»: Es beschreibt den Ausstieg aus der Konsum- und Leistungsgesellschaft. Immer mehr junge Menschen verweigern sich dem Druck, ständig mehr leisten und konsumieren zu müssen, und suchen nach einem einfacheren Leben.

Der Wendepunkt: Null-Covid-Politik

Ein dramatischer Wendepunkt war Chinas strikte Null-Covid-Politik. Lockdowns wurden rigoros durchgesetzt, oft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen, schildert die Autorin: «Sie hinderten Menschen daran, ins Krankenhaus zu fahren, liessen Tiere in Wohnungen verhungern oder töteten sie aus Angst vor Ansteckung.»

Zwei Personen, eine in Schutzausrüstung, gehen auf einer Strasse.
Legende: Lockdown ohne Ende: Chinas Null-Covid-Strategie wurde während der Pandemie mit aller Härte durchgesetzt. Keystone

Solche drastischen Massnahmen haben das Vertrauen der Bevölkerung stark erschüttert, denn sie erinnerten an die Zeiten unter Mao, wo mit eiserner Faust regiert und drangsaliert wurde. Mit Konsequenzen, die bis heute anhalten.

In ihrem Buch erzählt Lea Sahay die Geschichte der Studentin Xiao Li, die dem Leistungsdruck nicht mehr standhalten mag und den Parteiparolen keinen Glauben schenkt.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Lea Sahay: «Das Ende des chinesischen Traums. Leben in Xi Jinpings neuem China». Droemer Verlag, 2024.

Beim Spaziergang durch Peking hält Xiao Li mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg: «‹Hört auf die Partei! Demokratie! Freiheit! Gleichheit!› Xiao schnaubte, als sie einen Umweg um einen der Blumenkübel nehmen musste, auf der Xis politische Parole einer ‹neuen Ära› gedruckt war. ‹Alles Unsinn›, murmelte sie.»

Die Taiwan-Frage als Damoklesschwert

Über der chinesischen Gesellschaft schwebt die ungelöste Taiwan-Frage. Die Mehrheit der Chinesen ist der Überzeugung, dass Taiwan Teil Chinas ist und eines Tages zur Volksrepublik zurückkehren sollte.

Doch die Unterstützung für eine militärische Lösung dieses Konflikts ist gering, erzählt Lea Sahay: «Viele Chinesen lehnen die Vorstellung eines Krieges ab, auch wenn gelegentliche nationalistische Wellen, oft durch den Einfluss der USA ausgelöst, für Unruhe sorgen. Angesichts der Ein-Kind-Politik und der unklaren Vorteile eines militärischen Konflikts scheint kaum jemand bereit, sein einziges Kind für diesen Konflikt zu opfern.»

Wo bleiben die neuen Träume?

Lea Sahay ist hin- und hergerissen. Sie bewundert die Resilienz und Lebensfreude der Menschen in China, erkennt jedoch, dass die Gesellschaft unter den Machtträumen der Kommunistischen Partei leidet.

Zum 75. Jahrestag der Parteigründung schreibt die China-Kennerin in ihrem Buch: «Die Tragik von Xi Jinpings chinesischem Traum ist, dass er den Menschen vorschreiben will, wie ihre Träume auszusehen haben.»

Und es wird andere Träume geben, davon ist die Journalistin überzeugt.

Die Kultur-Highlights der Woche im Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Entdecken Sie Inspirationen, Geschichten und Trouvaillen aus der Welt der Kultur: jeden Sonntag, direkt in Ihr Postfach. Newsletter jetzt abonnieren.

Radio SRF 1, 1.9.2024, 9:15 Uhr

Meistgelesene Artikel