Abtreibungsdebatte in den USA - Die New York Times seziert das Abtreibungsurteil in ihrem Podcast
Nach dem Entscheid des Obersten Gerichts der USA reagierte das Team des «The Daily»-Podcast der New York Times sofort: Drei Folgen widmeten sich ausschliesslich dem Urteil und seinen Folgen – mit Analysen und Stimmen von der Strasse.
Nach dem Abtreibungsurteil prallt in den USA Jubel auf Empörung. Journalistinnen und Journalisten des New York Times Podcast «The Daily» gingen direkt nach dem Urteil auf die Strassen, in die Abtreibungskliniken und machen eine nüchterne Bestandesaufnahme.
Jubel und Fassungslosigkeit auf den Strassen
Sydney Harper, Produzentin bei «The Daily», fuhr unmittelbar nach der Urteilsverkündung zum Obersten Gericht, wo sich Menschen aus dem ganzen Land versammelten – unter einem massiven Polizeiaufgebot.
Sie traf auf jubelnde Abtreibungsgegnerinnen wie die 24-jährige Jocabed Torres, die extra aus Kalifornien nach Washington geflogen war, um hier zu feiern. «Wir erwarteten die Entscheidung und sind sehr glücklich darüber.» Die Menge ruft: «Let their hearts beat, let their hearts beat!» Lasst ihre Herzen schlagen.
Ausschnitt aus dem Podcast: Die Jubelnden
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Sydney Harper, NYT: «Bist du aus der Gegend?»
Jocabed Torres: «Ich bin aus Kalifornien.»
S.H.: «Dann bist du hierhergeflogen, dafür?»
J.T.: «Ja, wir haben mit der Entscheidung gerechnet. Wir sind sehr zufrieden. Am Anfang wollte ich nicht mitmachen (bei der Feier), ich bin nicht konservativ. Ich dachte mir, wie könnte ich mit einem Haufen Republikaner, mit weissen Typen, feiern? Aber mir wurde klar, dass es um viel mehr geht. Die Menge hier besteht aus Frauen. Sie besteht aus People of Colour. Sie besteht aus Atheisten, LGBTQ-Gemeinschaften, Demokraten. Es gibt die Demokraten für das Leben. Es ist eine Gemeinschaft der Lebensbefürworter.
Stimmungsbild und nüchterne Analyse
Die Journalistin traf aber auch auf wütende und verzweifelte Frauen wie Sarah Orton-Vipond. Sie könne nicht verstehen, wie man eine Entscheidung feiern könne, die vielen Frauen den Tod bringen werde: «The Overturning of Roe just means a lot of people dying.»
Diesem Stimmungsbild aus Washington folgt eine nüchterne Analyse der Entscheidung durch den New York Times Verfassungsgerichtsreporter Adam Liptak. «Im Grunde hat der Supreme Court entschieden, die Verfassung habe zum Thema nichts zu sagen», fasst der Reporter zusammen. Die US-Bundesstaaten könnten beliebig selber entscheiden, ob sie Abtreibung verbieten oder zulassen wollten.
Fassungslosigkeit in der Abtreibungsklinik
Die nächste Ausgabe des «The Daily»-Podcast zum Thema geht direkt in betroffene Abtreibungskliniken in den Staaten mit sogenannten Triggerlaws: Mit einer Gesetzgebung, die schon darauf ausgerichtet war, sofort nach dem Urteil des Obersten Gerichts in Kraft zu treten.
Jessica Rubino, eine Ärztin in Austin, Texas, erzählt, wie sie am Morgen nach dem Urteil benommen in die Klinik fuhr. Sie half den Patientinnen, deren Abtreibung an dem Tag angesetzt waren, andere Adressen in anderen Bundesstaaten zu finden.
Ausschnitt aus der Episode: Stopp in der Frauenklinik
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Jessica Rubino: «Ich habe mich für die Arbeit fertig gemacht. Gerade als ich zur Tür hinaus wollte, um in die Klinik zu fahren, bekam ich eine SMS von meinem Büroleiter, in der stand: «Roe overturned.» «Roe gekippt.» Aber ich wusste bereits, was das bedeutete: Wir haben nicht die Erlaubnis, heute noch Abtreibungen vorzunehmen. Stopp.
Ich dachte sofort an diese eine Patientin, die ich erst vor ein paar Tagen in der Klinik hatte. Sie war eine Patientin, der es sehr schwerfiel, schon allein in der Klinik zu sein. Während des gesamten Besuchs bekam sie eine Panikattacke, weil sie solche Angst hatte, dass sie ihre Abtreibung in Texas nicht bekommen würde.
Sie zitterte förmlich und weinte. Und schliesslich sagte sie: «Ich habe einfach solche Angst, dass ich schon zu weit bin (mit der Schwangerschaft).» Sie hatte noch keinen Ultraschall gemacht, aber sie hatte Angst, schon zu weit zu sein.»
Sabrina Tavernise, NYT: «Das heisst, dass sie schon über der Sechs-Wochen-Grenze in Texas liegt?»
J.R.: «Ja, genau. Ich fand heraus, dass sie unter dem Grenzwert lag, eine Abtreibung möglich war. Sie befand sich immer noch mitten in einer Panikattacke, aber wir arbeiteten uns durch und hatten etwas Hoffnung. Und so verliess sie die Klinik.»
Katherine Pittman, Administratorin der Hope Medical Group in Shreveport, Louisiana, sagt unter Tränen, das sei einfach nicht richtig. Niemand mit einem Funken Menschlichkeit sollte das diesen Frauen antun, ihnen die bereits zugesagte Abtreibung nun einfach zu verweigern. «How can anyone call themselves human and put these ladys through what they’re going through now?»
Auf diese sehr emotionale Podcastepisode direkt aus den stillgelegten Abtreibungskliniken folgt eine weitere nüchterne Bestandsaufnahme unter dem Titel «The New US Abortion Map» – die neue US-amerikanische Abtreibungskarte.
Journalistin Margot Sanger-Katz fasst zusammen, in welchen Staaten die Abtreibung per sofort verboten ist, wie man sie mit übers Internet bestellten Pillen trotzdem bekommen kann. Und dass diejenigen Staaten, in denen der Schwangerschaftsabbruch legal bleibt, auf absehbare Zeit wahrscheinlich viel zu wenig Kapazitäten haben werden.
Ausschnitt aus dem Podcast: Wie weiter?
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Michael Barbaro, NYT: «Wenn jemand in den Staaten mit Abtreibungsverbot dennoch abtreiben will, welche Ausnahmen gibt es? Wie strikt sind diese Verbote?»
Margot Sanger-Katz: «Im Grossen und Ganzen sollte man sie als praktisch totale Verbote betrachten. Es gibt in allen Staaten Ausnahmen, um das Leben der Mutter zu retten. Und einige von ihnen haben Ausnahmen für eine Schwangerschaft durch Vergewaltigung oder bei Inzest.
Aber da ist zum einen das, was im Gesetz steht, und dann gibt es noch die praktische Realität, wie Abtreibung in diesen Staaten aussehen wird.»
M.B.: «Wie meinen Sie das?»
M. S.-K.: «In diesen Staaten haben alle Abtreibungsanbieter die Durchführung von Abtreibungen eingestellt. Es gibt keine Abtreibungskliniken mehr, die derzeit in Betrieb sind. Das bedeutet, dass ein Vergewaltigungsopfer, das nach diesem Gesetz eigentlich Anspruch auf eine Abtreibung hätte, in diesem Staat keine Möglichkeit hat, abzutreiben.»
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