Die Sonne scheint auf den alten Hafen von Nuuk, der Hauptstadt Grönlands. Am Quai vor dem lokalen Museum steht ein verhüllter Stein. Hunderte von Menschen haben sich versammelt: Sie lauschen den Ausführungen von Bürgermeisterin Avaaraq Olsen und dem Trommelgesang von Hivshu Ua, einem Nachfahren des legendären amerikanischen Polarforschers Robert Peary.
Unter tosendem Applaus wird die Abdeckung vom Stein gezogen und eine Inschrift wird sichtbar: «Arnarulunnguaq (1896–1933), Inuit nunaanik kaajallaaqatausoq» (Das Land der Inuit). Es ist ein Denkmal für Arnarulunnguaq, eine starke Frau aus dem nordgrönländischen Qaanaaq.
Gemeinsam mit dem dänischen Polarforscher Knud Rasmussen bildete sie in den frühen 1920er-Jahren die Spitze der sogenannten fünften Thule-Expedition, in deren Verlauf ein 18'000 Kilometer weiter Weg durch die Arktis mit Hundeschlitten zurücklegt wurde.
Aber so wie ein Jahrhundert lang die indigene Arnarulunnquaq in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle spielte, nannte die frühere Kolonialmacht Dänemark den alten Hafen von Nuuk schlicht «Kolonihavnen».
Mit der Statue des ersten dänischen Missionars Hans Egede und dem ehemaligen Spital, wo über Jahrzehnte junge Grönländerinnen gegen ihren Willen sterilisiert wurden , im Hintergrund treffen wir die Regisseurin Mudi Berthelsen, die mit ihrem Film «The Fight for Greenland» bekannt wurde.
Mudi Berthelsen hat Grosses vor: «Bislang wurde unsere Geschichte von Männern aus Kopenhagen geschrieben, jetzt ist es Zeit, dass wir unsere eigene Geschichte erzählen». Dafür arbeitet Berthelsen seit einigen Jahren mit der bekannten Schauspielerin Nivi Pedersen (« Borgen », «Thin Ice») zusammen und bereitet eine Serie zur grönländischen Geschichte vor.
Dafür reist ihr Produktionsteam in die entlegensten Dörfer entlang der über 40'000 Kilometer langen Küste der mit 2.1 Millionen Quadratkilometer grössten Insel der Welt.
«Die Begeisterung in der Bevölkerung für diese erste indigene Fernsehserie ist gross, aber das Geld für das Projekt ist knapp», räumt Mudi Berthelsen ein. Gut eine Million Franken soll die Fernsehreihe, die im Jahr 2027 ausgestrahlt werden soll, kosten.
Berthelsen ist überzeugt, dass die neue Reihe zur grönländischen Geschichte aus grönländischer Sicht auch für die junge Generation eine wichtige Lücke füllt: «In meiner Schule las ich noch in den Lehrbüchern über den kleinen Ole, der im Wald Velo fährt.» In Grönland gibt es keinen Wald. (Mit einer kleinen Ausnahme, ganz im Süden.)
Seit über 4000 Jahren ein «Land der Menschen»
Grönland wird seit über 4000 Jahren von Menschen bewohnt. Lange wanderten diese über die Meerengen im höchsten Norden von Nordamerika kommend ein. Dann erreichte im Jahre 985 n. Chr. ein norwegischer Wikinger, Erik der Rote, als erster Europäer den Südzipfel der Insel.
Seinen Nachfahren war dann aber das Klima doch zu rau und es dauerte bis ins 18. Jahrhundert und der Ankunft des Missionars Hans Egede, bis die Insel wieder auf westlichen Landkarten erschien.
Die dänische Krone machte Grönland zur Kolonie und 1953 zur Provinz. Erst 1979 erhielt das «Land der Menschen» (grönländisch: «Kalaallit Nunaat») Autonomierechte, 2009 die volle Selbstverwaltung. Jetzt strebt das Land die staatliche Unabhängigkeit an.
Zu den wichtigen politischen Vorkämpferinnen dieser neuen Etappe in der modernen Geschichte Grönlands gehört Sara Olsvig: Schon als junge Mutter begann sich die heute 46 Jahre alte Nuukerin politisch zu engagieren. Sie vertrat die Insel im Dänischen Parlament «Folketing», war Abgeordnete im «Inatsisartut», Grönlands Einkammerparlament, und Vorsitzende der heutigen Regierungspartei IA.
Seit 2022 leitet sie das Kooperationsorgan aller Inuitvölker rund um den Nordpol, das «Inuit Circumpolar Council» (ICC): «Wir vertreten die Inuit in wichtigen internationalen Organisationen wie der UNO, der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation, dem Weltklimarat und dem Arktischen Rat.»
«Was in der Arktis passiert, geht die ganze Welt an»
«Wir haben in dieser unwirtlichen Umgebung seit über 4000 Jahren überlebt und uns behauptet», sagt Sara Olsvig und ist überzeugt, dass es die Menschen in Grönland und andere Inuit-Völker auch künftig schaffen werden: «Dafür müssen wir aber global kooperieren, denn was in der Arktis passiert, geht die ganze Welt an.»
Neben der formell-institutionellen Arbeit im politischen Kontext wollen sich die Inuit aber auch in der internationalen Öffentlichkeit eine Stimme erkämpfen: Hier setzt eine andere Grönländerin an.
«Das Leben ist wunderbar»
Qupanuk Olsen ist Social-Media-Star: Mit ihren Posts erreicht sie auf Youtube, Instagram und anderen Plattformen ein Millionenpublikum: «Ich betreibe Aufklärungsarbeit im eigentlichen Sinn», erzählt die dreifache Mutter beim Treffen in Qinngorput, dem neusten Stadtteil der boomenden grönländischen Hauptstadt.
Olsen ist ehemalige Soldatin des Arktischen Kommandos – der grönländischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte – und erste Bergwerkingenieurin des Landes. In einminütigen Videos geht sie auf die Sprache, Kultur und Eigenheiten Grönlands ein.
Wir müssen uns aus der dänischen Zwangsjacke befreien.
Dabei setzt Qupanuk Olsen konsequent auf positive Nachrichten und schliesst ihre Beiträge stets mit dem Satz ab: «Life is amazing, Tulliani takuss’» («Das Leben ist wunderbar, bis bald»).
Im Gespräch ausserhalb des neuen internationalen Flughafens von Nuuk, der Ende November in Betrieb geht, zeigt sie sich jedoch sehr kritisch zu der aus ihrer Sicht viel zu vorsichtigen Gangart der grönländischen Politik: «Wir müssen uns endlich aus der dänischen Zwangsjacke befreien und auf eigenen Beinen stehen.»
Trotz weitgehender Selbstverwaltung wird etwa die grönländische Migrationspolitik weiterhin in Kopenhagen gemacht, tragen die Einkünfte aus der lukrativen Fischwirtschaft der Insel zur dänischen Staatskasse bei und wird die Miete der amerikanischen Streitkräfte für die Nutzung der «Thule Air Base» (die seit 2023 «Pituffik Space Base» heisst) nach Dänemark überwiesen.
Die Spätfolgen des Kolonialismus sind im ganzen Land zu spüren: «Wir verfügen zwar über enorme Möglichkeiten in vielen wirtschaftlichen Bereichen, aber gleichzeitig sind uns finanziell und politisch immer noch die Hände gebunden», stellt Tine Pars, die Direktorin Grönlands mit gut 50'000 Quadratkilometer Fläche kleinster Gemeinde, Kujalleq, fest. Wir treffen sie im malerischen Hafenstädtchen Qaqortoq, wo die Häuser bunt sind und das blaue Meer mit schwimmenden Eisbergen gespickt ist.
Die 58 Jahre alte frühere Rektorin der Nuuker Universität sieht den Job als Gemeindechefin als «ihre bislang grösste Herausforderung». Der Grund: In der grönländischen Provinz fehlt es an vielen Orten nicht nur an finanziellen Mitteln für den Ausbau der Infrastruktur in Bereichen wie Fischwirtschaft, Tourismus und Bergbau, sondern auch an genügend jungen Menschen, die sich für leitende Funktionen in diesen Branchen ausbilden lassen.
Vor allem unter den Grönländerinnen findet jedoch ein Umdenken statt: «Ich möchte nicht einfach nur einen Job haben, von dem ich leben kann, sondern in meiner Rolle auch zur Entwicklung des Landes beitragen», sagt Eleonora Hoffmeyer. Die 30-jährige Handelsstudentin studiert in Qaqortoq «nachhaltigen Tourismus» und hofft, dereinst ein Hotel vor Ort eröffnen zu können.
Derzeit gibt es in Qaqortoq nur ein Hotel – mit einem dänischen Management. Im Hafen von Qaqortoq legen zwar regelmässig Kreuzfahrtschiffe an: «Dann kommen innerhalb von wenigen Stunden mehrere Tausend Besucher an Land», sagt Hoffmeyer, die sich ursprünglich zur Detailhändlerin ausgebildet hat, nun aber einen Schritt weiter gehen möchte. Wie einst die Polarfahrerin Arnarulunnguaq könnte die junge Grönländerin in Sachen Tourismus zu einer Türöffnerin für ein selbstbewussteres und eigenständigeres Grönland werden.