Seit Moischi 2023 in einem israelischen Internat lebt, geniesst er die Ferien Zuhause in Zürich umso mehr. In lockerer Teenager-Manier fläzt er auf dem Sofa der Grossfamilie und scrollt durch die Fotogalerie seines Handys. Seines Handys?
Ja, schmunzelt er. Er dürfe eines haben, vor allem um aus Israel mit den Eltern zu kommunizieren. Aber natürlich mit Einschränkungen. Surfen geht nicht, jede App muss vom Vater freigegeben werden.
An Regeln wie dieser stösst er sich nicht: den strengen Speisevorschriften, die sich aus der Tora ableiten, den täglichen Gebeten, dem Schabbat, an dem keine elektronischen Geräte eingeschaltet werden dürfen. Für ihn, alles Selbstverständlichkeiten. «Es ist ja nicht so, dass mir plötzlich was weggenommen wurde. Ich kenne es nicht anders.»
Wenn ich allein unterwegs bin, trage ich immer eine Dächlichappe über der Kippa.
Gerade findet das siebentägige Laubhüttenfest statt. Auch da gibt es Regeln. «Die Mahlzeiten werden nur in der offenen Hütte im Garten eingenommen. Als Erinnerung an den Auszug unseres Volkes aus Ägypten, das in der Wüste in temporären Behausungen wohnte», sagt Moischi und verschwindet kurz in der Hütte, um etwas rohen Guezliteig zu naschen. Er sei Nesthäkchen und Naschkatze der Familie – und heute verantwortlich für das Dessert.
Sichtbarkeit und Unsicherheit
Die jüdisch-orthodoxe Gemeinschaft ist klein, doch prägt sie das Bild in Zürich Wiedikon. Von ca. 7000 Jüdinnen und Juden sind etwa 2500 charedisch, also streng jüdisch-orthodox, so Historiker Ralph Weingarten. Eine hohe Prozentzahl. In Zürich gibt es alles, was sie brauchen: Schulen, Kleiderläden, Synagogen, eine der wenigen koscheren Metzgereien der Deutschschweiz. Das ziehe weitere charedische Menschen an, die unter sich bleiben wollen.
Beim Spaziergang durchs Quartier zeigt Moischi auf andere Laubhütten, die sich in Gärten oder auf Balkonen präsentieren. Diese Sichtbarkeit des jüdischen Lebens sei heute nicht einfach. Seit dem Krieg, seit der Messerattacke auf einen jüdisch-orthodoxen Mann im März dieses Jahres, fühlt sich der Teenager nicht mehr wohl.
«Ich dachte, wir sind hier in der neutralen Schweiz sicher, aber anscheinend ist das nicht mehr so.» Klar sei die Sicherheit immer ein Thema gewesen. All die Kameras an seiner Primarschule zum Beispiel. Doch heute sei es viel extremer. «Wenn ich allein unterwegs bin, trage ich immer eine Dächlichappe über der Kippa, um mich vor Sprüchen oder Grimassen zu schützen.» Oder er wechsle die Strassenseite, wenn er sich unwohl fühle.
Bei den meisten Raketen habe ich 90 Sekunden Zeit, um in den Bunker zu rennen.
In Israel, wo er aktuell studiert, weil er nur dort eine religiöse Ausbildung mit einem weltlichen Abschluss kombinieren konnte, fühle er sich paradoxerweise sicherer. «Dafür dass es dort so viele Juden gibt, ist die Chance, dass etwas passiert, viel kleiner», rechnet der Teenager vor. In Zürich werde ihm neuerdings immer mehr bewusst, dass er in einer Minderheit lebe.
Leben in einem Land im Krieg
Ein grosser Koffer voller koscherer Schokolade und Chips, ein paar Kleider und einige Sorgen – das hatte Moischi dabei, als er im Sommer 2023 im Internat in Ganei Tikva ankam – einer Kleinstadt vor den Toren Tel Avivs. Würde er sich als einziger Ausländer integrieren? Ohne die Sprache zu sprechen? Mittlerweile hat er sich eingelebt. Auch wenn er im Viererzimmer die Privatsphäre vermisse und das Heimweh ab und zu zuschlage. Ganz normale Teenagersorgen.
Weniger normal war, was daraufhin passierte. Der Angriff der Hamas auf Israel, der Krieg. Und damit die regelmässigen Raketenalarme. «Bei den meisten Raketen habe ich 90 Sekunden Zeit, um in den Bunker zu rennen. Bei einigen auch weniger.» Bei der ersten Rakete sei er gerade unter der Dusche gewesen und hatte extreme Panik. Am Anfang schlief er in den Schuhen, um pünktlich im Bunker zu sein.
Wir versuchen so gut es geht, ihn vor grausamen Informationen zu schützen.
Heimkehren wollte er trotzdem nicht, den Anschluss, die neu gewonnen Freunde nicht verlieren – solange sich die Situation nicht extrem verschlimmere. Inzwischen gehe es etwas leichter, aber die Angst bleibt. «Ich gehe in Israel nicht mehr an Orte, an denen ich nicht genau weiss, in wie vielen Sekunden ich den nächsten Bunker erreiche.»
Auch für die Familie zu Hause ist die Situation belastend. «Zu Beginn habe ich nur mit Mühe funktioniert», sagt Moischis Mutter Esther Frenkel. Die Familie versuche ihn so gut es geht vor grausamen Informationen zu schützen. Zugang zu Zeitungen oder Computern hat Moischi im Internat nicht.
Eigentlich sei es schlimmer, alles zu wissen und hier auszuharren, als vor Ort zu sein. Das weiss Esther Frenkel aus Erfahrung: «Als Teenager war ich im Golfkrieg dort, während meine Mutter zu Hause Angst hatte. Die Geschichte wiederholt sich.» Doch wie geht man damit um?
Glaube und Zusammenhalt
Zum einen, indem man versuche zu glauben, dass alle von oben geleitet sei, so Esther Frenkel. «Meine Mutter sagte schon immer, du kannst auch in der Schweiz überfahren werden.» Wenn es passiert, passiere es – egal wo. An die Unsicherheit müsse man sich gewöhnen, sie gehöre zur jüdischen Identität dazu. Moischi ergänzt: «Antisemitismus gibt es überall. Wir müssen lernen, damit umzugehen.»
Ohne jüdisch zu sein, wäre mein Leben leer.
Und doch erhofft er sich Unterstützung von aussen. «Wenn jemand auf der Strasse ‹Saujude› ruft, schweigen die Menschen rundherum, aus Angst oder Respekt.» Er wünsche sich, dass man nicht wegschaue, sondern sagt, dass das nicht in Ordnung sei. Dass die Nachbarn es wagen, nachzufragen, ob es den Verwandten in Israel gut gehe, statt aus Hilflosigkeit zu schweigen.
Und natürlich helfe die Gemeinschaft, der Zusammenhalt, der Glauben. Er gibt Moischi Halt und Struktur. Aus dem strikten Regelwerk auszubrechen, wie das andere Jugendliche tun, ist für den angepassten Teenager keine Option. «Ohne jüdisch zu sein, wäre mein Leben leer.» Er mache das nicht, um bloss einem Regelwerk zu gehorchen, «sondern weil ich weiss, dass jemand auf mich aufpasst».
Besonders spürbar sei der Zusammenhalt an Festen wie heute. Zum zweitletzten Feiertag des Laubhüttenfests treffen Moischis vier älteren Brüder mit ihren Frauen ein. Sie necken den jungen Bruder, boxen ihn in die Seite, loben seine Guezli. Drei von ihnen haben dieses Jahr geheiratet – via Heiratsvermittlerin. Auch Moischi wird diesen Weg einschlagen, sagt er zufrieden – und «ich hoffe natürlich, sie findet die Richtige für mich».