Gibt man bei der Google-Bildsuche «Ruhe» ein, ploppen Fotos von menschenleeren Stränden, einsamen Buchten und Holzstegen über stillen Gewässern auf. Zwei Dinge scheinen auf allen Bildern gleich: Die Ruhe zeigt sich offenbar vor allem in der Natur, und sie scheint eine einsame Sache zu sein.
Mitten im Trubel stellt sich die Windstille im tobenden Herzen also nicht ein. Wer Ruhe sucht, muss als erstes dafür sorgen, wortwörtlich in Ruhe gelassen zu werden.
Der erste Schritt zur Tiefenentspannung ist für viele der letzte Akt im Büro, bevor sie den Computer in Tiefschlaf versenken. Je nach Gusto wird eine salbungsvolle oder trockene Abwesenheitsmeldung verfasst, die deutlich macht: Mit einer Antwort ist in den kommenden Wochen nicht zu rechnen. Die Schotten sind dicht gegen alles Getöse der Welt.
Der Gang in die Wildnis
Die Vorstellung, dass Ruhe in erster Linie die Abkehr von der Welt und von den anderen Menschen ist, hat eine lange Tradition. Einsiedler zogen immer schon in die Wüste oder Wildnis, um unbehelligt von Fremdansprüche und dem Tosen der Welt ganz in die Innerlichkeit zu finden.
Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau oder Henry David Thoreau taten es ihnen gleich. Sie waren überzeugt: Um zur Ruhe zu kommen, müsse der Mensch als Erstes die Ketten der Zivilisation sprengen und in der Natur wieder das unverfälschte Leben einüben lernen.
Denn wie unwirtlich die Natur zuweilen sein mag – im Unterschied zu den Menschen hat sie einen grossen Vorteil: Sie urteilt nicht. Friedrich Nietzsche war überzeugt, dass genau darin der Grund liege, warum wir die Natur so schätzen. Im tiefen Wald, im einsamen Tal muss man sich niemandem beweisen, nichts leisten, nicht beeindrucken. Es reicht, einfach zu sein. Welch beruhigende Erfahrung!
Ruhe ist nicht Stille
Weil die Natur nicht urteilt, stört uns selbst ihre eigene Unruhe nicht. Denn Natur ist vieles – aber sicher nicht still. Wie laut das Tosen des Ozeans, das Rauschen des Regens oder das Gezwitscher der Vögel aber auch sein mag: All diese Geräusche gelten nicht uns. Deshalb können wir sie getrost ziehen lassen.
Wie ärgerlich dagegen das Aufheulen eines Motors: Muss der Nachbar die Potenz seines Sportwagens so lautstark inszenieren? Oder die dröhnende Musik im Seebad: Können die Barbaren nicht Rücksicht nehmen auf feine Seelen, die einfach ruhen wollen?
Wie laut die Natur auch rauschen, donnern, toben mag – als Lärm empfinden wir sie selten. Denn unter Lärm verstehen wir das Störgeräusch, das jemand absichtlich oder zumindest rücksichtslos von sich gibt.
Das Rauschen des Meeres ist dagegen einfach da, es will uns nichts sagen – und spricht uns dennoch an: Welch Wunder, dass es seit Jahrmillionen gurgelt und plätschert und sich durch nichts und niemanden stören lässt.
Auch das ist übrigens für viele von uns ein beruhigender Gedanke, der uns in der Weite der Natur ergreifen kann: Das eigene Leben ist kurz, eingebettet in die raumzeitlichen Dimensionen der Welt um uns herum, nicht mehr als ein Wimpernschlag.
Was wiegen meine kleinen Alltagssorgen schon angesichts der steinernen Riesen, an deren Fuss einst Dinosaurier weideten? Angesichts der Weite der Ozeane, in deren Schoss sich Abermillionen Tiere tummeln? Unsere Alltagssorgen können wir, Aug in Aug mit einer uralten Moräne oder einer aberwitzig weiten Schlucht, als unbedeutende Episode ziehen lassen.
Grübeln ohne Ende
Reicht es also, auf der Suche nach Ruhe den Gang in die Natur anzutreten? Wenn es doch so einfach wäre. Leider hat man sich selbst und den eigenen urteilenden Geist auf die einsame Insel oder in die karge Alphütte mitgenommen.
Ausgerechnet in der Stille beginnen die Gedanken peinigend zu kreisen: Bin ich wirklich noch glücklich in meiner Beziehung? Warum erhält die Kollegin immer die besseren Angebote? Weshalb wohne ich immer noch in der muffigen Wohnung, die ich längst verlassen wollte?
Wer schon einmal zu meditieren versucht hat, kennt das bestens: Je stiller es aussen wird, desto lauter toben die Gedanken im Inneren. Und weil diese Grübeleien unangenehm bis bedrohlich werden können, lenkt sich manch einer lieber wieder ab.
Wer weiss, vielleicht gibt es ja doch irgendwo WLAN auf dieser verlassenen Insel, sodass man eben mal kurz in der Mailbox nach dem Rechten sehen könnte? Und sollte man nicht, wenn man schon hier ist, doch noch etwas Sightseeing machen?
Der Lärm im Kopf
Der Psychoanalytiker C. G. Jung schrieb 1950 an die Schweizerische Liga gegen den Lärm den schönen Satz: «Wir hätten den Lärm nicht, wenn wir ihn nicht heimlich wollten.» Möglicherweise gilt dies nicht nur für den akustischen Lärm, sondern ebenso für den Lärm in unseren Köpfen. Denn diesen veranstalten wir umso heftiger, je mehr wir die Stille fürchten, in der unsere Zweifel und Sehnsüchte hörbar werden, die wir sonst gekonnt übertönen.
Manche beginnen spätestens jetzt, dem rastlosen Geist neues Futter zu geben, auf dass er nicht länger den Bodensatz der eigenen Seele aufwirble: Ferienlektüren verschlingen, Souvenirs einkaufen, Party machen – sie tun alles, um bloss nicht weiter zur Ruhe kommen zu müssen, die sich als abgründiger erweist als ihnen lieb ist.
Faulenzen ist nicht gleich ruhen
Daran ist auch nichts falsch. Manchmal hat es seinen Reiz, tagelang am Pool zu dösen, abends Party zu machen und sich vom Animationsprogramm unterhalten zu lassen. Nicht für alle bedeutet Ruhe zu finden, den Gang in die Innerlichkeit anzutreten. Manche mögen damit eher Faulenzen oder lautstarkes Halligalli verbinden.
Warum auch in den Ferien noch Probleme wälzen? Kommen wir nicht viel eher zur Ruhe, wenn wir gerade mit dem Nachdenken aufhören und uns stattdessen ablenken lassen vom Nörgeln und der eigenen Befindlichkeit?
Mit der inneren Ruhe, für die der Aussteiger Thoreau in die Wälder zog und die in meditativen Praktiken gesucht wird, haben solche Ablenkungsmanöver allerdings wenig zu tun.
Die kontemplative Ruhe, wie wir sie nennen können, keimt nicht in der Ablenkung vom Hier und Jetzt, sondern gerade in der Hinlenkung auf das, was in uns und um uns pulsiert. Sie ist also auch kein Dämmerzustand oder Halbschlaf, sondern ein Zustand gesteigerter Wachheit.
Hellwach und mittendrin
Was mag damit gemeint sein? Ein Hinweis findet sich bei der französischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil. Sie versteht Ruhe als eine besondere Form menschlicher Aufmerksamkeit, die sich gegen die permanente Gedankenflucht wendet und ganz bewusst die Gegenwart einkreist. Sie ist deshalb auch keine Weltflucht, sondern eine bewusste Wendung zur Welt hin.
Simone Weil geht es im Ruhen auch nicht um Selbstfürsorge oder -optimierung, sondern um ein Offenwerden für's Gegenüber. Wer auf diese «mystische» Weise ruht, weiss sich verbunden mit der Welt und mit dem Leiden aller Geschöpfe. Es ist eine Ruhe, die uns aufgehoben sein lässt, aber nie gleichgültig.
Solch wache Ruhe ist ausserdem immun gegen den Vorwurf, die Sehnsucht nach Ruhe sei Ausdruck arroganter Gleichgültigkeit angesichts einer Welt, die in Flammen stehe. Denn manche mögen sich ja tatsächlich fragen: Darf man tiefenentspannt am Strand liegen oder im Yoga in den Bauch atmen, während anderswo gemordet, gehungert, gefoltert wird? Müssten wir angesichts der vielen gegenwärtigen Krisen nicht vor allem eines: nämlich Unruhe bewahren?
Unruhe als politische Kraft
Ruhe muss man sich leisten können. Wer akut bedroht ist, wird schliesslich zurecht unruhig. Deshalb war und ist Unruhe immer auch Motor politischer Veränderung gewesen, während umgekehrt revolutionäre Bewegungen auch schon niedergeschrien wurden mit dem Slogan: «Ruhe ist erste Bürgerpflicht!»
Unruhe kann jedoch auch in blinden Aktivismus oder abgrundtiefe Sorge umschlagen, in der manche auszubrennen drohen vor lauter Kümmernis. Dann tut vermutlich Ablenkung not: eine Ruhe, die erst mal gut sein lässt und einem eine Auszeit gewährt von all dem Schweren, das auf einen einprasselt.
Mit Simone Weil können wir ausserdem festhalten, dass es abgesehen von der Ruhe als Abkehr von der Welt eben auch die Ruhe als Hinwendung zur Welt gibt, als eine intensive Form der Aufmerksamkeit für ihre Schönheit, aber auch ihr Leiden. Ruhe kann uns also im Unterschied zu einem plumpen Quietismus auch empathischer, politischer und aktiver machen.