Flugzeuge, Baumaschinen, Verkehr und Berieselung über Handy und Kopfhörer: Lärm und Ablenkung schaden uns tagtäglich. Wir benötigen mehr denn je Stille und Innehalten, sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke.
SRF: Lutz Jäncke, wie halten Sie es mit der Stille?
Lutz Jäncke: Ich schätze die Stille. Nicht ständig, aber ab und zu. Unser Gehirn mag keine chaotischen und unvorhersehbaren akustischen Reize. Man spricht von akustischem Smog oder Geräuschsmog, der in Grossstädten immer mehr zunimmt. Das mag unser Gehirn überhaupt nicht. Als Kontrapunkt ist Stille sehr hilfreich.
Menschen, die im Lärm von Grossstädten leben, sind stressanfälliger.
Was macht Lärm mit uns Menschen?
Lärm, der 90 bis 100 Dezibel überschreitet, ist schädlich für das Ohr. Das ist bei einem Pressluftbohrer der Fall, oder wenn wir bei einem Konzert der Rolling Stones den Kopf an die Lautsprecher halten. Das sind körperlich schädliche Reize, vor denen wir uns schützen müssen.
… und dann gibt es störende Geräusche.
Genau. Wenn ständig unerwartete Reize auftreten, lösen sie eine sogenannte Orientierungsreaktion oder eine Defensivreaktion aus. Beides können wir nicht unterdrücken. Wenn beispielsweise im Zug ein Mobiltelefon klingelt, richten wir die Aufmerksamkeit automatisch auf das Telefon. Das ist eine Orientierungsreaktion. Wir werden aus unserer aktuellen Tätigkeit herausgerissen. Die Defensivreaktion ist noch unangenehmer. Das ist eine Reaktion auf Reize, die Gefährlichkeit andeuten. Sie erzeugen bei uns eine Abwehrreaktion: «Fight or flight» (Kampf oder Flucht). All diese Reize lenken uns massiv ab.
Vieles davon ist uns gar nicht bewusst.
Exakt. Das passiert einfach um uns herum und überfordert unser Gehirn. Menschen, die im Lärm von Grossstädten leben, sind stressanfälliger. Das kann auf lange Sicht gesundheitsschädlich sein.
Wie wichtig sind Stille und Ruhe für uns Menschen?
Sehr wichtig. In der Stille beschäftigt sich das Gehirn mit sich selbst. Das erfordert Konzentration. In der Stille denken wir nach, lernen, finden kreative Lösungen und bekommen unsere Emotionen in den Griff.
… kein einfaches Unterfangen, in einer lärmintensiven Gesellschaft?
Wir brauchen Stille heute mehr denn je. Wir sind in grosser Gefahr durch die Internetwelt, die uns in eine sklavenartige Abhängigkeit von visuellen und akustischen Reizen bringt.
Wie müsste denn eine gesunde Stille ausschauen?
Absolute Stille hasst unser Gehirn wie der Teufel das Weihwasser. Menschen können nach wenigen Tagen in vollkommener Stille verrückt werden. Unser Gehirn braucht Abwechslung. Angenehme Geräusche sind beispielsweise Vogelgezwitscher oder ein plätschernder Bach.
Wir müssen Zeiten schaffen, in denen wir mehr in die Tiefe gehen und uns mit weniger Reizen auseinandersetzen.
Hat Musik eine ähnliche Funktion wie Stille?
Ja. Musik kann sehr hilfreich sein, wenn sie nicht als diffuse Hintergrundmusik gehört wird. Wenn wir Musik, die uns gefällt, konzentriert hören, ist das Lustzentrum in unserem Gehirn aktiviert. Wir werden in die Musik hineingezogen, sind im Flow, bewegen uns in einem meditativen Zustand.
Was würde der modernen Gesellschaft guttun?
Die Welt hat sich dramatisch verändert. Das hat sehr viel mit dem Internet zu tun. Wir nehmen sehr viele Geräusche um uns herum wahr, werden mit akustischen Stimuli überflutet. Der Mensch hat noch nie so viel Musik gehört wie heutzutage, überwiegend diffus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ständige Stimuli für unser Gehirn gut sind. Wir müssen Zeiten schaffen, in denen wir mehr in die Tiefe gehen und uns mit weniger Reizen auseinandersetzen.
Das Gespräch führte Norbert Bischofberger.