«Im Garten trage ich immer Kopfhörer», sagt Liselotte Rohr, die in einem Einfamilienhaus im aargauischen Dorf Seon lebt. Meist bei geschlossenen Fenstern. Hinter einer Hecke rauscht der Verkehr vorbei, wenige Meter vom Haus entfernt.
Besonders laut sind Lastwagen und Traktoren mit Anhängern, die über die unebene Strasse klappern. Am Sonntag brausen Motorräder vorbei.
Im November wurde Tempo 30 eingeführt, nachdem sich die pensionierte Kindergärtnerin fünf Jahre lang für Lärmschutz-Massnahmen stark gemacht hat. Auch mit juristischen Mitteln. «Wer sich gegen Lärm wehren will, braucht Geld und Nerven», sagt sie. «Es ist wirklich ein Kampf, obwohl die Einhaltung der Grenzwerte ein Recht ist.»
Eine Million Menschen leben über dem Grenzwert
In der Schweiz leben rund 1.1 Millionen Menschen mit übermässigem Strassenlärm. Das schränkt nicht nur die Lebensqualität ein: Lärm hat ernsthafte gesundheitliche Auswirkungen. In der Schweiz gehen jährlich rund 70’000 Lebensjahre wegen übermässigem Lärm verloren, sagt der Umwelt-Epidemiologe Martin Röösli vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel.
Die Erkenntnis, dass Lärm der Gesundheit schadet und erhebliche Folgekosten produziert, sei bei manchen Behörden, in der Politik und auch in der Bevölkerung noch zu wenig angekommen, sagt die Juristin Sophie Ribaut. Sie ist Vorstandsmitglied der Lärmliga Schweiz, ein Verein, der sich für Lärmschutz einsetzt.
Gesundheitliche Folgen von Lärm werden unterschätzt
In Beratungen stellt Ribaut fest, dass Betroffene oft nicht ernst genommen werden. «Sie bekommen zu hören, sie seien halt empfindlich und sollen doch aufs Land ziehen. Dabei ist Lärm eine Frage der öffentlichen Gesundheit.»
Als Liselotte Rohr zum ersten Mal zu einer Lärmschutzberatung ging, bekam sie Ohropax und den Rat, in ihrem Haus eine Lüftung einbauen zu lassen, auf eigene Kosten. Die Rohrs hatten bereits Schallschutzscheiben, wollten aber nicht ständig bei geschlossenen Fenstern leben.
Ich nahm einen Anwalt, und wir reichten Beschwerde beim Kanton ein.
Im Frühling 2018 wandte sich Liselotte Rohr an den Gemeinderat von Seon. Da sie keine Antwort bekam, sammelte sie Unterschriften in der Nachbarschaft und schrieb erneut. Dieses Mal reagierte der Gemeinderat, ging aber nicht auf den Wunsch nach Lärmschutzmassnahmen ein.
Befreiung von Sanierungspflicht
Später erfuhr Liselotte Rohr, dass die Gemeinde Seon beim Kanton einen Antrag für eine sogenannte «Erleichterung» für ihre Liegenschaft gestellt hatte. Das bedeutet: eine Befreiung von der Sanierungspflicht der lauten Strasse. Diese Ausnahme ist gesetzlich möglich, wenn die Massnahmen unverhältnismässig sind, die für die Einhaltung der Immisions-Grenzwerte nötig wären. Für Betroffene heisst das: Die Lärmbelastung bleibt bestehen.
«Das brachte mich auf die Palme», sagt Liselotte Rohr. «Ich nahm einen Anwalt, und wir reichten Beschwerde beim Kanton ein.» Mit Erfolg: Die Gemeinde musste Lärmschutz-Massnahmen prüfen lassen. Ein entsprechendes Gutachten empfahl eine Temporeduktion.
Behördentrick: Eine Ausnahme wird zum Regelfall
Es komme viel zu oft vor, dass Strassen nur am Schreibtisch saniert werden, sagt die Juristin Sophie Ribaut: «Die Behörden haben die Ausnahme als Regel angewandt. Das führt dazu, dass an vielen Orten die Immissionsgrenzwerte weiterhin überschritten sind.» In der Schweiz seien 78 Prozent der Strassen auf diesem Weg «saniert» worden, mit grossen kantonalen Unterschieden.
Sophie Ribaut beruft sich auf Zahlen, welche die Lärmliga nach Ablauf der Sanierungsfrist 2018 beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) angefordert und ausgewertet hat. Das Bafu möchte diese Zahlen nicht bestätigen. Ein Interview mit Verantwortlichen der Sektion Strassenlärm war nicht möglich. Nur ausgewählte schriftliche Fragen wurden beantwortet.
Tempo 30: halber Lärm, aber politisch umstritten
Lärmschutz ist ein Politikum, seit er 1987 im Umweltschutzgesetz verankert wurde. Damals war das Ziel, alle Betroffenen innert 15 Jahren vor übermässigem Strassenlärm zu schützen. Doch das ist nicht annähernd gelungen. Bis heute ist erst ein Viertel der Betroffenen geschützt. Die Frage, woran das liegt, beantwortet das Bafu nicht, schreibt aber, dass es Programmvereinbarungen mit den Kantonen gibt, um Massnahmen an der Quelle stärker zu fördern.
So gibt es das Gesetz auch vor: Lärm soll dort bekämpft werden, wo er entsteht. Wirksam sind lärmarme Strassenbeläge und insbesondere eine Temporeduktion. Ein Rückgang von Tempo 50 auf Tempo 30 sorgt bereits für eine Halbierung des Lärms. Eine kostengünstige Massnahme, die aber politisch ein heisses Eisen bleibt.
Bundesrat und Parlament wollen den Lärmschutz lockern
Das Ringen um Lärmschutz ist eine immense Aufgabe, weil sich dabei wichtige Interessen in die Quere kommen. Die Bevölkerung und die Mobilität nehmen seit Jahren zu. Es braucht leistungsstarke Verkehrswege und mehr Wohnraum. Weil Wohnungen fehlen, möchten Bundesrat und Parlament nun den Lärmschutz lockern, um das Bauen an lärmbelasteten Strassen zu erleichtern. Über die Auflagen wird noch verhandelt.
Der Ständerat will weiter gehen als der Nationalrat und Wohnungen erlauben, in denen man nur mit geschlossenen Fenstern leben kann, sofern eine kontrollierte Lüftung eingebaut wird. «Das ist ein kompletter Abbau des Lärmschutzes», kritisiert Sophie Ribaut von der Lärmliga.
Lärm ist auch eine soziale Frage
Sollte die Revision des Umweltschutzgesetzes gutgeheissen werden, ist die Lärmliga bereit, das Referendum zu ergreifen. Lärm sei auch eine soziale Frage, sagt Sophie Ribaut: «In Wohnungen an stark belasteten Standorten leben meist Menschen mit niedrigem Einkommen. Umgekehrt wohnen Entscheidungsträger in der Regel nicht an lauten Strassen.»
Es ist fraglich, ob ich das nochmals machen würde.
Wer es sich leisten kann, zieht aus lärmigen Wohngebieten weg. Lärmflucht wiederum ist eine wichtige Ursache für das Verkehrswachstum, schreibt das Bafu. Das führe zu neuen Lärmbelastungen in vormals ruhigen Gebieten – ein Teufelskreis.
Zermürbt nach langem Verfahren
Liselotte Rohr ist es dank ihres Engagements gelungen, eine Temporeduktion zu erwirken. Glücklich ist sie darüber aber nicht: «Es ist fraglich, ob ich das noch einmal machen würde.» Die Diskussion habe im Dorf zu viel Unmut geführt. Sie fühlt sich nach dem fünfjährigen Verfahren zermürbt: «Ich will nicht immer die sein, die stürmt.»
Immerhin: Seit November 2023 gilt nun Tempo 30 auf der Strasse, die an ihrem Haus vorbeiführt. Ruhig ist es dort weiterhin nicht. Die Markierungen hätten zwar eine Verbesserung gebracht, sagt Liselotte Rohr, doch viele Fahrer würden sich nicht daran halten. Mittlerweile ist sie es leid, zu kämpfen. Also geht sie weiterhin mit Kopfhörern in den Garten und hofft, dass der gesetzliche Lärmschutz in Zukunft ernster genommen wird.