Ein Vollbad an kalten Tagen, es wärmt und entspannt. Aber wäre Duschen nicht besser, weil das weniger Energie verbraucht? Der Bundesrat hat doch empfohlen, Strom zu sparen. Wobei: Müssen wir wirklich auf das Baden verzichten, während in den Bergen die Schneekanonen laufen und Menschen sorglos Ski fahren?
Ich fühlte mich als Rabenmutter.
Das schlechte Gewissen, das sich dieser Tage nicht nur im Badezimmer melden kann, ist wie eine innere Stimme. Sie bewertet uns und unser Tun wie eine Richterin.
Ob wir Energiesparen wirklich gut finden, das bestimmen unsere eigenen Wertvorstellungen. Solche Werte sind jedoch oft von aussen geprägt. Davon also, was wir als Kinder zu Hause, in der Ausbildung oder im Musikverein mitbekommen.
Mutter mit Gewissensbissen
Die evangelische Theologin und Philosophin Christina Aus der Au hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre heute 14-jährige Tochter in die Kita brachte. «Ich fühlte mich als Rabenmutter», erinnert sie sich. Dabei entspreche es gar nicht ihren Wertvorstellungen, dass eine Mutter nur zu Hause bei den Kindern sein sollte.
«Weil ich jedoch Normen von aussen verinnerlicht habe, hatte ich gegenüber meiner Tochter ein schlechtes Gewissen.» Wäre sie etwa in Frankreich aufgewachsen, hätte es anders kommen können. Dort ist es normal, kurz nach einer Geburt als Mutter wieder arbeiten zu gehen.
Es anders machen
Das schlechte Gewissen ist kein gutes Gefühl. Was also tun, um es loszuwerden? Das sei gar nicht unbedingt nötig, findet Tobias Ballweg, Philosoph und leitender Psychologe im Sanatorium Kilchberg am Zürichsee.
«Eigentlich ist das schlechte Gewissen etwas Wichtiges», ist Ballweg überzeugt. «Es weist mich darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen meinen Wertvorstellungen und meinem Verhalten. Was ich aus dieser Diskrepanz mache, ist dann etwas anderes.»
Wir sind stark von einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft geprägt.
Das schlechte Gewissen kann uns also helfen, unser Verhalten zu reflektieren. Weil man eine Tat im Nachhinein falsch oder schlecht findet, «kann man sich zum Beispiel entschuldigen oder sich vornehmen, es zukünftig anders zu machen», fasst Tobias Ballweg zusammen.
Schuldig oder nicht?
Nicht sich selbst hinterfragen, sondern die Normvorstellungen: Das ist eine andere Möglichkeit, mit dem schlechten Gewissen umzugehen.
«Wir sind sehr stark von einer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft geprägt. Wenn ich diesen Vorstellungen nicht entspreche, kann das ein schlechtes Gewissen und starke Schuldgefühle auslösen», weiss Tobias Ballweg aus seinem Berufsalltag. Im Sanatorium Kilchberg ist er für Menschen mit stressbedingten Erkrankungen wie Burn-out oder Erschöpfungsdepressionen zuständig.
«Jemand hat beispielsweise von klein auf gesagt bekommen, du darfst nicht scheitern, oder du darfst keine Fehler machen», erklärt der Psychologe. Das könne zu Schuld- und Schamgefühlen führen, wenn man diesen Vorstellungen nicht entspricht.
Vielleicht wird einem dann aber auch bewusst, dass man ohne Fehler und Misserfolge gar nicht durchs Leben kommen kann. So ginge es in einem nächsten Schritt darum, «andere Leitsätze zu finden, die dem Leben dienlich sind».
Sich selbst prüfen
Gesellschaftliche Normen und vor allem biografische Prägungen zu hinterfragen, gehöre seit der Antike zum Prozess der Selbsterkenntnis: sich fragen, warum wir etwas gut oder schlecht, richtig oder falsch finden. Darum habe das schlechte Gewissen auch immer mit der Person zu tun, die es empfindet, sagt Ballweg.
Bei der berufstätigen Mutter heisst das, dass ihr schlechtes Gewissen vordergründig zwar ihrem Kind gegenüber gilt. Im Hintergrund sind es aber ihre eigenen Wertvorstellungen, die zu ihrem schlechten Gewissen führen. Deswegen spricht Tobias Ballweg auch von einem «Selbstverhältnis», wenn es um das schlechte Gewissen geht.
Das Gewissen delegieren?
Ich bin also selbst dafür verantwortlich, wie ich mit meinem schlechten Gewissen umgehe, egal ob beim Vollbad statt Dusche oder wenn ich trotz Überstunden meine, noch mehr arbeiten zu müssen. Ist diese Selbstverantwortung nicht auch überfordernd? «Ja», sagt Christina Aus der Au.
Das schlechte Gewissen kann eine Entschuldigung sein, sich nicht mit einer komplexen Situation vertieft auseinanderzusetzen.
So will die Theologin das Gewissen auf keinen Fall einfach an Gott oder jemand anderen delegieren. «Gott hätte immer recht. Wer kann da schon widersprechen», fragt sie rhetorisch. Christina Aus der Au hält es «auch in einem theologischen Sinn für richtig, dass ich meine Herz- und Kopfbrille selbst schärfe und mein Gewissen an den biblischen Texten immer wieder überprüfe».
Gutes schlechtes Gewissen
Seltsamerweise gebe es auch Menschen, die auf ihr schlechtes Gewissen stolz seien, findet Christina Aus der Au. «Sie fühlen sich besonders sensibel und machen anderen einen Vorwurf, dass sie zum Beispiel Fleisch essen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.» So könne das schlechte Gewissen pervertiert und instrumentalisiert werden, zum Beispiel in der Werbung.
«Es gibt Produkte, zum Beispiel als Fleischersatz, die mir ein gutes Karma versprechen», sagt die Philosophin. «So fühlt man sich gut und muss nicht mal über die Alternativen nachdenken, was für Fleisch und wie viel man essen könnte.»
Biofleisch direkt ab Hof und massvoll statt Billigfleisch oder Ersatzprodukte aus dem Ausland: Christina Aus der Au würde es begrüssen, wenn Menschen sich im Gespräch darüber austauschten, wie Fleischkonsum ethisch vertretbar wäre.
Die Theologin findet, das schlechte oder eben gute Gewissen könne eine Entschuldigung sein, sich nicht mit einer komplexen Situation vertieft auseinandersetzen zu müssen.
Mein Gegenüber, das Ding
Tobias Ballweg ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit vielen Kühen, Hühnern und Schweinen. Zu manchen der Tiere hatte er eine besonders enge Beziehung, kannte sie von klein auf.
Eines Tages sollte sein Lieblingsschwein geschlachtet werden. Für das Kind undenkbar: «Es ist mir erst später aufgefallen, dass es in diesem Moment darum ging, das Tier zu einem Ding zu machen», sagt Tobias Ballweg, «um die Situation überhaupt zu ertragen und kein schlechtes Gewissen haben zu müssen».
Sich das Gegenüber ohne Gefühle und Empfindungen vorstellen, ohne Schmerz oder Angst. Das sei häufig und unbewusst eine Strategie, um Schuldgefühle loszuwerden. Aber: «Indem wir einen Menschen oder ein Tier zum Ding machen, nehmen wir unserem Gegenüber die Seele», macht Psychologe Ballweg deutlich.
Genau das passiere im Bereich der Sexualität, wenn sich jemand mit käuflichem Sex befriedige. «Die Sexarbeiterin oder der Sexarbeiter wird dann als Ware betrachtet, die man kaufen kann.» Auf diese Weise entlaste man sein Gewissen.
Das Gegenüber abwerten
Eine weitere Strategie, sich vom schlechten Gewissen zu befreien, sei es, das Gegenüber abzuwerten. Das könne so weit gehen, sagt Tobias Ballweg, dass es zum Bösen stilisiert würde. Das ermögliche Verhaltensweisen, die man gegenüber Mitmenschen normalerweise nicht akzeptieren würde.
Noch schlimmer ist es, wenn sich jemand vorstellt, das Opfer wollte es nicht anders.
Ballweg nennt den Ukrainekrieg: «Das sehen wir im Moment, wie die Russen die Ukrainer zum Feind schlechthin erklären und andersrum. Das ist wohl eine Strategie, um jeden Tag gegen das Tötungsverbot zu verstossen.» Dieses Beispiel macht deutlich, dass es verschiedene Stufen oder Intensitäten des schlechten Gewissens gibt.
Gefahr der Gewissenslosigkeit
Selbst schuld, wer eine Ohrfeige bekommen hat: So oder so ähnlich könnte sich jemand vor sich selbst rechtfertigen, wenn ihm oder ihr die Hand ausrutscht. Das ist für Tobias Ballweg eine dritte Strategie, um mit dem schlechten Gewissen klarzukommen. «Noch schlimmer ist es, wenn sich jemand vorstellt, das Opfer wollte es nicht anders.»
Das komme bei Sexualdelikten häufig vor, «dann wird etwa eine knappe Kleidung als Hinweis dafür gesehen, dass jemand Sex haben wollte. Es interessiert aber nicht, ob sie oder er es wirklich gewollt hat». Mit solchen oft unbewussten Methoden schaffen wir uns «Schattenreiche der Gewissenlosigkeit», wie Ballweg es nennt.
Auf dem Weg zu Selbsterkenntnis
Ein schlechtes Gewissen haben wir alle immer wieder mal. Aus Schuld- oder Schamgefühlen, ebenso wie aus Bequemlichkeit heraus. So oder so ist es ein Gefühl, das wir abschütteln möchten.
Wie wir das schlechte Gewissen schnellstmöglich wieder loswerden, scheint allerdings nicht die entscheidende Frage. Viel wichtiger ist, es zum Anlass zu nehmen, uns und unser Handeln kritisch zu überdenken.
Wenn wir alte Glaubenssätze mit neuen Leitsätzen überschreiben, dann ist das schlechte Gewissen ein positiver Impuls. Und ein guter Wegweiser auf dem Pfad der Selbsterkenntnis, die auch unter der Dusche nicht baden gehen muss.