«Ich habe die ganze Zeit geschwiegen. Ausser meiner Frau und meinen Söhnen wusste niemand davon», sagt Sergio. Als uneheliches Kind wurde er gleich nach der Geburt – er war gerade mal zehn Tage alt – im Erziehungsheim der «Stiftung Gott hilft» im Tessiner Dorf Pura «versorgt». Dort verbrachte er die ersten elf Jahre seines Lebens. Einen Vormund, der sich für seine Rechte hätte einsetzen sollen, sah er nur einmal.
Sergio arbeitete später selbst in einem Heim. Der mittlerweile pensionierte Mann erinnert sich, dass sich keiner seiner Arbeitskollegen für seine Geschichte interessiert habe. Auch dann nicht, als er über die Geschichte seiner Fremdplatzierung ein Buch veröffentlichte: «Da kam einfach nichts. Das hat mich wahnsinnig beschäftigt.»
«Der Bub kostet»
Der älteste Zeitzeuge, der sich in der Videoinstallation im Landesmuseum Zürich äussert, ist der 97-jährige Armin. Er kommt 1927 als uneheliches Kind zur Welt. Seine Mutter muss ihn weggeben. Zunächst wächst er in einer Pflegefamilie auf. Als die Behörden darüber streiten, wer seine Hose und sein Hemd bezahlen soll, heisst es: «Der Bub kostet.»
Aus finanziellen Gründen kommt er mit sieben Jahren ins Erziehungsheim Sonnenberg bei Luzern. In seiner ersten Nacht erlebt er, dass Bettnässer aus dem Schlaf gerissen und bestraft werden. Sie müssen den Rest der Nacht stehend neben dem Bett verbringen.
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Bild 1 von 4. Bellechasse, Sugiez (FR), 1940er-Jahre. Schlafsaal im «maison de rééducation au travail» in Bellechasse. Mit der Einweisung verloren die Kinder ihre individuelle Freiheit und Privatsphäre und mussten sich unterordnen. Sie wuchsen oft isoliert auf. Bildquelle: Schweizerisches Nationalmuseum/Staatsarchiv des Kantons Freiburg.
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Bild 2 von 4. Pestalozziheim Redlikon, Stäfa (ZH), 1955. Der Alltag war durchgetaktet, im Zentrum stand die Arbeit. Freundschaften untereinander oder Kontakte nach aussen wurden unterbunden. Erst in den 1960er-Jahren veränderten sich Erziehungsvorstellungen. Bildquelle: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich/BAZ_032975.
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Bild 3 von 4. Arbeitsraum im Mädchenheim «Lärchenheim» in Lutzenberg (AR). Die Arbeit erfolgte unter Zwang und hier ohne Bezahlung. Ziel war es, möglichst wenige Personen durch öffentliche Gelder unterstützen zu müssen. Dies galt für Kinder und Erwachsene. Bildquelle: Schweizerisches Nationalmuseum/StAAG/RBA1-1-8848_1 /Reto Hügin.
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Bild 4 von 4. Nonnen mit Kindern eines Heim im Wallis, zwischen 1930–1940. Neben den Vormundschaftsbehörden gab es auch private und kirchliche Heime und Adoptionsvermittlungsstellen, die bei Fremdplatzierungen involviert waren. Bildquelle: Schweizerisches Nationalmuseum/Paul Cattani.
Auch Alain erlebt viel Gewalt. Körperliche Misshandlungen sind an der Tagesordnung: Er sei wie die anderen Heimkinder oft weinend, mit blauen Flecken und aufgeplatzten Lippen zur Schule gegangen. Das ganze Dorf habe die malträtierten Kinder sehen können: «Ce qui est très dur, c’est le silence des gens» – das Schweigen der Menschen sei sehr hart.
Als er 16 ist, läuft er weg. Er schlägt sich bis Marseille durch und schliesst sich der französischen Fremdenlegion an. Noch nicht 20, kehrt er mittellos in die Schweiz zurück.
Folgen der Fremdplatzierung
Viele Frauen und Männer sind bis heute durch die körperlichen, psychischen, sozialen und finanziellen Folgen der Fremdplatzierung belastet: nächtliche Albträume, Angst- und Beziehungsstörungen, kleine Renten, teure Psychotherapien und hohe Zahnarztrechnungen.
Dazu kommen oft Hemmungen, sich an eine Behörde zu wenden. «Wo immer du hingehst, die Behörde ist immer schon über dich informiert», sagt Karin: «Die Massnahmen werden vielleicht beendet, wenn du 19, 20 bist. Aber du hast trotzdem lebenslänglich.»
Erinnerungsarbeit leisten
Das Landesmuseum Zürich setzt mit den zehn Video-Gesprächen zum Thema «Fremdplatziert» seine Reihe «Erfahrungen Schweiz» fort. Es sieht sich in der Pflicht, einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit zu leisten, sagt Kuratorin Rebecca Sanders.
Sie hat die Ausstellung zusammen mit der Historikerin Loretta Seglias konzipiert, die seit zwei Jahrzehnten zum Thema forscht und mit Betroffenen im Gespräch steht. Letztere war es auch, die die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ausgewählt hat.
Es sei wichtig, jene Normen und Werte zu kennen, welche die Gesellschaft lange Zeit prägten, sagt Rebecca Sanders. Die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der schweizerischen Sozialpolitik konnten sich bis 1981 halten. Das bedeute auch, «dass immer noch Leute unter den Folgen leiden – und darüber müssen wir uns verständigen».