Vor über 40 Jahren soll ein staatlich angestellter Heimleiter im Kinderheim Einsiedeln Kinder sexuell missbraucht und geschlagen haben. Er leitete das Heim von 1967 bis zu dessen Schliessung Ende 1972. Die Kinder nannten ihn «Vati». Nun ist der ehemalige Heimvater gemeinsam mit seiner Frau zurück ins Dorf gezogen.
Für viele ehemalige Heimkinder ist diese Rückkehr ein Schock. Annemarie Iten, die selbst noch im Dorf lebt, schildert der «Rundschau»: «Mir tut alles einfach weh, seit Wochen, seit Monaten.» Seit der Heimleiter zurück sei, habe sie Schmerzen am ganzen Körper. Sie lebe in dauernder Angst, ihm zu begegnen.
Die Rückkehr des Heimleiters, erzählen ehemalige Heimkinder, habe bei ihnen verdrängte Erinnerungen geweckt. Es sind düstere Geschichten von Prügel, psychischer Schikane und sexuellem Missbrauch, die die meisten von ihnen nie jemandem anvertraut haben.
«Brüste kontrolliert und Genitalien getastet»
Eine Frau erzählt: «Er öffnete mir den Pullover, schaute vorne rein, ob die Brust gewachsen ist und fasste rein, um zu schauen, ob sie gross ist.» Die Betroffene war damals zwölf Jahre alt.
Eine andere Frau berichtet, der Heimleiter sei immer freitags ins Badezimmer gekommen, wenn sie im Schaumbad gelegen habe. «Er hat zuerst die Brüste kontrolliert und herumgedrückt, dann hat er noch die Genitalien betastet».
Wieder andere berichten von massiven Schlägen auf den Kopf mit einem Siegelring und von psychischer Gewalt.
Kein Interview mit Heimleiter
Der ehemalige Heimleiter lehnte mehrere Interview-Angebote der «Rundschau» ab und verwies auf seinen Anwalt. Über diesen lässt er ausrichten, dass er selbst ein Heimkind gewesen sei und an die Zeit als Heimleiter eine ganz andere Erinnerung habe.
Es sei vorgekommen, dass er die «Heimkinder mit der Hand auf den Hintern und an die Wange geschlagen hat. Weitere Übergriffe fanden nicht statt und niemand wurde dabei verletzt». Für die Vorkommnisse entschuldigt er sich in dem Schreiben bei allen Betroffenen.
Das ist das, was uns jetzt am meisten verletzt: Dass wir als Lügner dargestellt werden.
Dass der Mann die sexuellen Übergriffe und die massive Gewalt abstreitet, ist für die ehemaligen Heimkinder ein weiterer Schlag ins Gesicht «Das ist das, was uns jetzt am meisten verletzt: Dass wir als Lügner dargestellt werden», so Annemarie Iten. Es sei wie damals: Man glaube ihnen nicht, weil sie Heimkinder seien.
Aufarbeitung in Aussicht gestellt
Die ehemaligen Heimkinder fordern eine Entschuldigung vom Heimleiter und von den Verantwortlichen die Aufarbeitung der Geschehnisse. Mit Erfolg: Der amtierende Bezirksammann von Einsiedeln, Franz Pirker wurde – konfrontiert mit den Recherchen der «Rundschau» – aktiv und organisierte ein Treffen mit einer Vertreterin der ehemaligen Heimkinder.
Es mache ihn betroffen, was die Heimkinder erzählen. «Ich will nicht, dass man so weitermacht wie von 1972 bis 2019.» Pirker verspricht, dass Einsiedeln die Geschehnisse nicht länger unter dem Deckel halten wolle. «Diese Geschichte kommt immer wieder hoch. Wir wollen sie jetzt endlich aufarbeiten.»
Strafrechtlich sind die Taten, die dem ehemaligen Heimleiter vorgeworfen werden, indes verjährt.