Fotos aus seiner Kindheit hat Charles Martin keine. Schlechte Erinnerungen dafür zuhauf. Typisch für ein Kind, das Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wurde. Die alleinerziehende Mutter hatte weder das Geld für einen Fotoapparat noch die Möglichkeit, sich um ihren Jungen zu kümmern. Die Behörden steckten ihn mit sieben Jahren ins Kinderheim. Dort interessierte man sich nicht für das Aufwachsen von Charles.
Charles Martin kam mit sieben Jahren ins Heim
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Bild 1 von 3. Wenn die Frau von Charles Martin ein Wochenende lang weg ist, überkommen ihn vor allem nachts Ängste. «Obwohl es schon 50 Jahre her ist, seit ich in dunkle Räume gesperrt wurde.». Bildquelle: zVg.
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Bild 2 von 3. Nach dem Interview fällt Charles Martin das Lachen schwer. Er hatte Kopfschmerzen, wie stets, wenn er über seine Kindheit nachdenkt. Bildquelle: SRF/Claudia Kenan.
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Bild 3 von 3. 2021 wurde am Basler Rathaus eine Gedenktafel für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen angebracht. Charles Martin findet, die Tafel sei zu versteckt. Bildquelle: KEYSTONE/Georgios Kefalas.
Charles Martin sagt, dass ihn die Behörden von seiner psychisch kranken Mutter weggenommen haben, sei richtig gewesen. Was danach passierte, sei aber die Hölle gewesen.
Es gab keine Liebe im Heim. Es gab nur Schläge mit dem Lederriemen.
Angekommen im Kinderheim, habe man ihn in einen Raum gesteckt und gesagt, er könne sich hier ausweinen. Niemand habe ihn getröstet. Und obwohl er zuvor sexuell missbraucht wurde und Mühe mit Körperlichkeit hatte, wünschte er sich nichts so sehr, wie ab und zu in die Arme genommen zu werden. «Es gab keine Liebe im Heim. Es gab nur Schläge», sagt er. Schläge mit dem Lederriemen auf die nackte Haut.
Nach wenigen Wochen kam Martin in ein anderes Heim. «Da wusste ich, dass ich jetzt alleine bin. Ganz alleine.» Dieses Gefühl habe ihn seither nie mehr verlassen. «Ich leide noch heute sehr darunter. Ich kann niemandem vertrauen, das schmerzt sehr.»
Viel später kam heraus, dass alles auch hätte anders kommen können. «Mein Onkel hatte mich gesucht, um mich aufzunehmen», sagt Martin. «Aber die Behörden haben ihm nicht gesagt, wo ich bin.»
Kantone müssen Verfehlungen aufarbeiten
Geschichten wie jene von Charles Martin hat der Bund bereits aufgearbeitet. 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei den Opfern offiziell. Sie bekommen 25'000 Franken ausbezahlt. Das ist ein «Solidaritätsbeitrag». Jetzt müssen die Kantone die eigenen Verfehlungen wissenschaftlich untersuchen. Basel-Stadt will zum Beispiel 600'000 Franken für die Aufarbeitung zahlen.
In einem Kinderheim aufgewachsen ist auch Roger Brahier. Weshalb, weiss er nicht. «Meine Eltern sind in den 40er-Jahren durch Europa gefahren», erzählt er. «Weshalb, ist mir völlig unklar.» Jedenfalls kamen sie nach Bern. Dort trennten sie sich. Roger und sein Bruder kamen in ein Kinderheim.
Das Kinderheim war tipptopp.
Ihm sei es nie so schlecht gegangen wie vielen andern Kindern, die in dieser Zeit in ein Heim verfrachtet worden sind. Die Betreuerinnen seien nett gewesen. Schläge oder gar sexuellen Missbrauch habe er nie erlebt.
Roger Brahier
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Bild 1 von 4. Roger Brahier wirkt zufrieden, er lacht viel. Dass er Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ist, wollte er selbst lange nicht wahrhaben. Bildquelle: SRF/Claudia Kenan.
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Bild 2 von 4. Roger Brahier mit seinem jüngeren Bruder. Die Betreuerinnen im Kinderheim seien nett gewesen, sagt Brahier. Aber auf das Leben hätten sie ihre Schützlinge nicht vorbereitet. Bildquelle: zVg.
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Bild 3 von 4. Die Mutter posiert mit dem neuen Ehemann. Als Roger Brahier erwachsen wurde und wissen wollte, weshalb er ins Heim gekommen ist, war seine Mutter bereits tot. Für ihn bleibt diese Frage unbeantwortet. Bildquelle: zVg.
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Bild 4 von 4. Am Sonntag sahen sich die Mutter und ihre beiden Söhne, die im Heim wohnten. Da durften sie das Heim für zwei Stunden verlassen. Bildquelle: zVg.
Was Brahier aber zu schaffen macht, ist, dass er nicht auf das Leben vorbereitet worden ist. «Überhaupt nicht.» Er habe beim Heimaustritt mit 16 Jahren nicht einmal gewusst, dass man sich die Haare mehr als einmal monatlich waschen sollte und sich um saubere Kleider bemühen muss.
Geschichte sollte sich nicht wiederholen
In seine erste Ehe stolperte Roger Brahier geradewegs hinein. Er habe mit 20 Jahren eine Frau kennengelernt. Sie wurde schwanger von ihm. «Hätte ich sie sitzen lassen, hätte sich die Geschichte wiederholt», sagt er. Also heiratete das Paar. Doch die Ehe ging in Brüche.
Brahier heiratete später noch einmal. Er und seine zweite Frau haben zusammen ein Kind und mittlerweile ein Grosskind. «Wahnsinnig, wie gut das Mädchen zeichnet», sagt Brahier. Er selbst hatte nie Farbstifte. Jetzt freut er sich, dass sein Grosskind das hat, was ihm in seiner Jugend fehlte.