Von Krisensituationen sind vor allem die Schwächsten betroffen. Das zeigt sich dieser Tage und Wochen auch in Afghanistan. Als oberste Entwicklungshelferin der Schweiz ist Patricia Danzi täglich mit menschlicher Not konfrontiert. Wie helfen – und wem? Die Chefin der DEZA über erste Learnings aus Afghanistan und ihre Verhandlungstaktik mit den Mächtigen.
SRF: Wie sieht die Arbeit der DEZA in Afghanistan aus?
Patricia Danzi: Das Land erlebt neben der Kriegssituation auch eine Dürre, was die Lebenssituation für die 40 Millionen Afghaninnen und Afghanen noch schwieriger macht.
Die DEZA ist seit 20 Jahren in Afghanistan tätig und konzentrierte sich auf Themen der Ernährungssicherheit, Bildung oder Rechtsstaatlichkeit. Man fragt sich heute natürlich: Was hat es gebracht?
Sie waren im Juni in Afghanistan, sechs Wochen vor der Machtübernahme der Taliban.
Es war meine erste Reise nach Afghanistan. Die Herzlichkeit der Menschen hat mich sehr beeindruckt. Die Leute hatten Angst und wollten wissen, wie die Schweiz helfen kann. Vielen Menschen ist das Taliban-Regime der 1990er-Jahre in dramatischer Erinnerung.
Auf der Reise wurde mir klar: Wenn wir jungen Frauen den Schulbesuch ermöglichen, wenn wir die Ernährungssicherheit verbessern, dann hilft das den Menschen, egal welches Regime kommt. Nachhaltige Entwicklung ist etwas, das bleibt, etwas, auf das man aufbauen kann.
Das Projekt des «Nation Building» ist in Afghanistan grandios gescheitert. Was sind die Learnings?
Es ist noch nie gelungen, «Nation Building» mit einer militärischen Intervention durchzusetzen. Es steckt auch eine gewisse Arroganz in der Idee, in Afghanistan einen Staat nach westlichen Prinzipien aufzubauen. Viele kulturelle Aspekte des Landes wurden nicht einbezogen.
Entwicklungshilfe braucht immer Partner.
Die Taliban sind auf Entwicklungshilfe angewiesen. Diese Hilfe stabilisiert auch das System. Ein Dilemma?
Humanitäre Hilfe soll neutral, unparteiisch und unbedingt sein. Aber es gibt immer politische Nebengeräusche: Wenn man für eine Gruppe etwas tut, ist eine andere Gruppe nicht glücklich darüber. Die Hilfe soll dort geleistet werden, wo die Bedürfnisse am grössten sind.
In Afghanistan werden derzeit die Löhne in den Spitälern nicht mehr bezahlt, das Gesundheitssystem droht zusammenzubrechen. Das ist für viele Menschen lebensbedrohlich. Hier ist die Antwort klar: Ja, man soll das System stärken, weil es lebensrettend ist. Aber es ist immer ein Dilemma.
Es gab keine Exit-Strategie bei dieser Intervention – man wusste nicht, unter welchen Bedingungen man wieder rausgeht. Gilt das auch für die Entwicklungshilfe?
Entwicklungshilfe braucht immer Partner – einen Staat oder Organisationen, die Projekte weiterführen können. Man setzt Ziele. Wenn sie erreicht sind, kann man rausgehen.
Aber die Situationen sind fragil. Die Parameter ändern sich ständig. Das erfordert schwierige Anpassungen. Aufhören ist bestimmt schwieriger als anfangen.
Geld allein bringt keine Zukunft.
Sie sprechen in Ihrer Zusammenarbeit von Augenhöhe. Ist die Forderung nach Augenhöhe realistisch? Ihre Organisation bringt das Geld, die anderen haben die Bedürfnisse…
Heute spricht man von Entwicklungszusammenarbeit. Geld allein bringt keine Zukunft. Es braucht die Partner vor Ort, die etwas wollen und eine Zukunft darin sehen. Ohne ihre Partizipation bringt es nichts, Geld in ein System einzubringen. Das ist gemeint mit Augenhöhe.
Sie besuchten in Ihrer ersten Auslandsreise ein Flüchtlingslager in Bosnien, begleitet von Kameras. Der Dialog mit den Betroffenen ist Ihnen wichtig.
Ich möchte mit den Betroffenen sprechen, ohne sie auszustellen wie im Zoo. Ich versuche immer, mit den Frauen in Dialog zu treten. Denn in der Flüchtlingswelt gibt es zwei Realitäten: jene der Frauen und jene der Männer.
Wie unterscheiden sich diese Realitäten?
Flüchtende Frauen haben oft mit sexueller Gewalt zu kämpfen. Auch Männer erfahren Gewalt, aber in einer anderen Form. Es migrieren weniger Frauen als Männer. Und besonders schwierig ist es für Frauen, die allein auf der Flucht sind.
Sie müssen auch mit Mächtigen, Diktatoren, vielleicht auch mit Massenmördern verhandeln. Mit welcher Haltung gehen Sie da rein?
Ein Dialog entsteht nur in einem gemeinsamen Dialogfenster. Man muss immer verstehen, was dem anderen wichtig ist. Jeder hat einen «Softspot», möchte geliebt werden für das, was er tut.
Wo ist die Win-Win-Situation? Es braucht Vorarbeit, man muss die Druckpunkte finden und gut zuhören können. Sonst lohnt es sich nicht, in solche Verhandlungen zu gehen.
Wenn Sie die Macht hätten, eine politische Massnahme umzusetzen, was würden Sie tun?
Ich würde jedem Menschen andere Augen einpflanzen, damit er die Realität der anderen Menschen sieht und selbst zu spüren bekommt.
Die Fragen stellte Wolfram Eilenberger. (Das vorliegende Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gespräch, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.)