Plötzlich geht die Freundin nicht mehr ans Telefon, erscheint der Freund nicht zur Verabredung: «Ghosting» nennt man es, wenn Menschen plötzlich und wortlos verlassen werden.
Die Journalistin Tina Soliman hat mit Betroffenen gesprochen. «Ghosting» ist für sie Folge der Digitaliserung – es sei das «Amazon-Prinzip für Beziehungen».
SRF: Kontaktabbrüche sind kein neues Phänomen. Was hat das digitale Zeitalter daran geändert?
Tina Soliman: Als man sich noch nicht auf Dating-Plattformen kennengelernt hat, gab es ein Umfeld, das korrigierend eingegriffen hat. Das gesagt hat: ‹Wo ist denn plötzlich Freundin X? Kannst Du erklären, warum Du diesen Kontakt nicht länger pflegen möchtest? Hast Du Dich auch vernünftig verabschiedet?›
Heute ist alles viel einfacher und anonymer. Man bewegt sich im Netz, hat Tools, mit denen man eine neue Bekanntschaft einfach wieder löschen oder selber untertauchen kann.
Weiss man, wer am meisten ghostet? Gibt es bestimmte Täter-Profile?
Frauen ghosten nicht weniger als Männer, Hochgebildete nicht weniger als Hilfskräfte – da lassen sich kaum Typen festmachen. Was man allerdings weiss: Narzissten nutzen Ghosting besonders gerne.
Ich warne allerdings vor Bezeichnungen wie «Opfer» und «Täter»: Diese klare Unterscheidung gibt es beim Ghosting eher nicht. Oft wurden vorab Signale gesendet, aber nicht erkannt. Vor allem, wenn nach längeren Beziehungen abgebrochen wird.
Man erwartet sofort das Beste. Wenn sich das nicht unmittelbar einstellt, greift man zur neuen Option: Der Nächste bitte.
Im Übrigen ist der Geist ja schon aus der Flasche: wenn man sich bei Tinder, oder welcher Netzspielart auch immer, kennenlernt. Was mit einem Wisch beginnt, endet eben häufig auch mit einem solchen.
Verlassene sind also möglicherweise nicht nur Opfer. Was haben sie sich die Geghosteten denn vorzuwerfen?
Verlassene dürfen sich überlegen, ob sie nicht vielleicht eigene Sehnsüchte in den anderen projiziert haben. Verliebtheit ist nicht Liebe.
Wenn eine Dating-Plattform wirbt: «Alle elf Minuten verliebt sich ein Mensch auf Parship», dann lässt sie unerwähnt, dass sich jede 12. Minute ein Mensch vielleicht schon wieder entliebt.
Verlieben ist keine Kunst, das kann jeder. Liebe hingegen ist ein Prozess. Dieser Prozess kommt nicht mehr zustande, wenn man heute auf Dating-Plattformen datet. Man erwartet sofort das Beste. Wenn sich das nicht unmittelbar einstellt, greift man zur neuen Option: Der Nächste bitte.
Sie zitieren in Ihrem Buch auch Ghosterinnen, die Spass daran haben, Menschen wieder wegzuwischen, abzuhaken, zu «deleten» – wie sie selber es nennen – und neue Chancen zu testen: Was steckt hinter einem solch egoistischen Verhalten ?
Indem wir uns auf eine Dating-Plattformen stellen, machen wir uns zu Gegenständen. Gegenstände werden – wie bei Amazon – bestellt und bei Nicht-Gefallen wieder zurückgeschickt.
Online-Dating ist so etwas wie das Amazon-Prinzip für Beziehungen: die Leute bestellen etwas, schauen es an, behalten es probeweise und schicken es zurück, wenn es nicht hundertprozentig ihre Ansprüche erfüllt. Die Kapitalisierung der Liebe!
Plattform-User sprechen ja auch von «deleten», sie haben «den gelöscht» oder «diese weiter gewischt». So können keine tiefen Emotionen entstehen. Es fehlt die Empathie. Aber ohne dass wir uns in den anderen hineinfühlen, wird es nicht funktionieren.
Romantiker sind die Schlimmsten!
Wo sehen Sie weitere Mechanismen, vor denen sich potentielle Opfer in Acht nehmen müssten ?
Mir scheint, dass viele Netz-Beziehungen im Zeitraffer stattfinden: Viel zu schnell wird Nähe zugelassen, man öffnet sofort einen Blick in die Seele, macht sich gegenseitig Geständnisse – alles schnell, schnell, schnell.
Da ist die Frage berechtigt: Wo bleibt das Geheimnis? Das wird schnell fade. Und wenn man die Bekanntschaften so rasch abhakt, hakt man auch den Schluss sehr schnell ab.
Vielleicht bin ich ja ein bisschen altmodisch, aber mir scheint, in diesen Begegnungen im Zeitraffer kann gar keine Romantik entstehen: Romantik braucht doch Raum für Entwicklung.
Ehrlich gesagt sind genau die Romantiker die Schlimmsten! Gemäss Umfragen ghosten diese Menschen am ehesten, weil sie stets den Prinzen, die Prinzessin suchen.
Sie neigen zur Idealisierung, stellen ein Gegenüber gleich auf einen Sockel. Und holen es sofort wieder runter, wenn die hohen Ansprüche nicht erfüllt wurden.
In Ihrem Buch werden Ghosterinnen und Ghoster auch als «Bulimiker der Liebe» bezeichnet, weil sie ständig Dates konsumieren, um sie dann gleich wieder auszuspucken. Ein solches Verhalten hat doch etwas Krankhaftes?
Es ist ein serielles Denken: der Nächste bitte. «Bulimiker der Liebe» hat der Philosoph Sven Hillenkamp die sogenannten «freien Menschen» genannt. Diese Menschen stopfen alles in sich hinein – konsumieren – und erbrechen es dann wieder.
Sie sagen, Ghosting sei die Folge des digitalen Zeitalters. Hat es aber nicht auch mit unserem Zeitgeist zu tun? Wir leben in einer sehr oberflächlichen Gesellschaft, in der Werte wie Loyalität und Beständigkeit verloren gegangen sind.
Ich glaube, die Dauer hat zurzeit tatsächlich einen schwierigen Stand. Dauer gilt als veraltet, lahm. Weiterentwickelung, Wandel, immer etwas Neues: das ist, was die Leute toll finden. Also: Das Beständige hat keinen Bestand.
Ich glaube trotzdem, dass es seinen Wert hat, und die Menschen im tiefsten Inneren das auch wissen: Alle wollen Bindungen, alle wollen geliebt werden, und Wandel um des Wandels willen hat noch nie jemanden weiter gebracht.
Das Gespräch führte Luzia Stettler.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 4.3.2020, 09:02 Uhr.