An gegenwärtigen Schulsystemen wird immer wieder Kritik laut: Schülerinnen und Schüler begegneten im Klassenzimmer oft Benachteiligung, seien veralteten Lehrkonzepten ausgesetzt und scheiterten an überhöhten Leistungsansprüchen.
Es gibt Bemühungen, das Bildungssystem so zu reformieren, dass es allen Kindern und Jugendlichen gerecht wird. Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach steht vielen dieser Ideen kritisch gegenüber.
In den Primarschulen der Stadt Luzern gibt es ab Sommer 2026 keine Prüfungsnoten mehr. Was halten Sie davon?
Ich glaube, Noten abzuschaffen ist keine gute Idee. Aber Noten sind auch höchst problematisch. Es gibt keine gute Lösung. Die Validität der Noten ausserhalb des Klassenzimmers ist gering. Aber wenn man ein meritokratisches System in der Gesellschaft hat, muss man irgendwie vergleichen können. Durch Noten kann man sich vergewissern, wo man steht.
Sind Noten das richtige Feedback für Schülerinnen und Schüler?
Evaluation hat man immer im Leben. Man kann die Frage stellen, ob sie quantifizierbar sein muss. Aber wenn man Feedback nur in Worten vergibt, wird es interpretationsbedürftig und dann haben wir ein Problem. Wichtig ist, dass Noten nicht heilig sind.
An einer Schule in Bürglen im Kanton Thurgau gibt es statt Lehrpersonen jetzt «Coaches», die durch sogenannte «Lernlandschaften» führen. Gehört selbstorganisiertes zur Schule der Zukunft?
Als Bildungsphilosoph hinterfrage ich solche Konzepte kritisch. Was «selbstorganisiertes Lernen» ist, weiss ich bis heute nicht. Lernen ist lernen, das kann man nicht organisieren. Das meiste, was wir lernen, ist Übernahme von Fremderfahrung. Niemand ist gegen Selbstbestimmung, aber was man in der Schule lernen muss, ist nicht einfach offen.
Ich bin fürs Auswendiglernen, das schafft Verknüpfungspunkte.
Ist das nicht zu konservativ? Bildung soll doch auch Spass machen und spielerisch sein.
Es ist schön, wenn jemand an einem Inhalt Freude hat. Aber die Idee, dass Lernen immer mit Spass zu tun hat und man die eigenen Lernprozesse organisieren kann, trifft einfach nicht zu. Mit diesen neuen Vokabeln in der Bildung kann man keine Pädagogik machen, die für alle Schülerinnen und Schüler funktioniert.
Woran liegt das?
Von so viel Eigenverantwortung profitieren Kinder, denen Schule sowieso leichtfällt. Das führt zu einer Pädagogik der Privilegierten. Sie haben durch den sozioökonomischen Status der Eltern oder deren Interesse an Bildung einen Vorteil. Kinder, die aus verschiedenen Gründen weniger leistungsmotiviert sind, müssen an der kürzeren Leine geführt werden, brauchen mehr Rückmeldung und Vorgaben.
Die Pädagogik muss sich von der Dominanz der Bildschirme befreien.
Google und ChatGPT haben den Unterricht verändert. Warum soll man noch Städte und Flüsse auswendig lernen, wenn man alles nachschlagen kann?
Wenn man mühsame Arbeit auf diese Weise auslagert, geht etwas verloren. Was ich mir selbst erarbeite, geht in mich über. Deshalb bin ich fürs Auswendiglernen, das schafft Verknüpfungspunkte, Orientierungswissen und einen breiten Horizont.
Worauf sollte sich die Pädagogik der Zukunft konzentrieren?
Sie muss sich von der Dominanz der Bildschirme befreien. Im Zentrum der Bildung steht für mich zudem die Sprache, das Lesen und das Schreiben. Es ist wichtig für die Mündigkeit, dass sich Menschen differenziert ausdrücken können. Ich glaube, da haben wir mittlerweile ein Problem.
Das Interview ist eine gekürzte Fassung des Gesprächs in der Sendung «Sternstunde Philosophie». Das Gespräch führte Yves Bossart.