Zum 1. August denkt die Schweiz über sich nach. Wir haben fünf Expertinnen gefragt, was sie sich für das Land in Zukunft wünschen: eine Raum- und Stadtplanerin, die oberste Lehrerin der Schweiz, eine Teilnehmerin eines Zukunftsrats, eine Ernährungsexpertin und eine Kulturmanagerin. Was sind ihre Ideen und Wünsche?
1. Wie sieht die Stadt von morgen aus, Marion Zängerle?
«Eine lebenswerte Stadt der Zukunft ist integrativ und multiperspektivisch geplant und gestaltet. In Bezug auf ihre Bewohnenden und Nutzenden, wie auch auf ihre Gestalterinnen und Gestalter ist sie sehr vielfältig. Die Stadt der Zukunft in der Schweiz schafft es, verschiedene Interessen und Perspektiven zu vereinen und nicht gegeneinander auszuspielen.
Je dichter eine Stadt wird und umso mehr Menschen in ihr leben, arbeiten und unterwegs sind, desto komplexer wird sie. Fragen zur Raumverteilung, Klimaanpassung und Lärmschutz können nicht von einer Disziplin allein gelöst werden.
Wir müssen uns klar machen, dass in einer Stadt viele unterschiedliche Bedürfnisse aufeinanderprallen, die vielleicht auch nicht so gut miteinander funktionieren. Diese unterschiedlichen Nutzungsansprüche können durch Beteiligungsformate erschlossen werden. Mit Plakaten und Infoständen im Stadtraum, ansprechenden Veranstaltungen im Quartier und digitalen Formaten können noch mehr Menschen einbezogen werden.
In ‹Superblocks› wird Strassenraum nicht nur als reine Verkehrsfläche genutzt, sondern es werden Aufenthaltsorte geschaffen.
Damit möglichst viele Bedürfnisse abgedeckt sind, braucht es einen Dialog zwischen Planenden und Nutzenden einer Stadt. Aber auch Offenheit, Kreativität und Kompromissbereitschaft beim Abwägen unterschiedlicher Ansprüche. Wenn wir über urbanes Leben nachdenken, geht es immer um mehr als die gebaute Stadt. Es geht um Stadträume als Lebensräume und Gemeinschaftsorte. Eine Schlüsselrolle kommt den Strassenräumen zu, als Orte des städtischen Lebens.
Die gerechte Verteilung und Nutzung des öffentlichen Raumes ist unsere Aufgabe von heute und morgen. Urbane Transformation beginnt oft mit Pilotprojekten. Ein Beispiel sind – nach dem Vorbild Barcelonas – Superblocks. Ein Ansatz, bei dem Strassenraum nicht nur als reine Verkehrsfläche genutzt wird, sondern mit temporären Massnahmen Aufenthaltsorte geschaffen und neue Verkehrsführungen getestet werden.
Denken wir über die Stadt von morgen nach, geht es auch darum, wie wir bereits Gebautes weiterentwickeln, aufwerten und optimieren können. Dasselbe gilt für Vorstädte und die Agglomeration. In Zukunft sollte man diese Räume noch mehr mit urbaner Qualität versorgen. Das Potenzial ist da.»
2. Wie sieht die Schule von morgen aus, Dagmar Rösler?
«Für ideale Bedingungen an Schweizer Schulen steht das Schlüsselwort Zeit. Kinder und Lehrkräfte benötigen Zeit und Weile, um Beziehungen aufzubauen. Gutes Lernen funktioniert über Beziehungen. Kleinere Klassen und mindestens zwei Lehrkräfte pro Klasse wären hier zukunftsweisend.
Das schafft auch mehr Raum für Partizipation: Möglichst alle an der Schule Beteiligten sollten sich auf Augenhöhe begegnen und auf der Basis von Respekt und Toleranz eng zusammenarbeiten. Beim Thema Chancengerechtigkeit gibt es je nach Meinung und politischem Verständnis verschiedene Ansätze. Dennoch: Es gibt datenbasierte Studien, die zeigen, dass die Art, wie Jugendliche in Leistungsniveaus eingeteilt werden, die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Niveaus sowie die frühe Förderung entscheidend sind für gerechtere Bildungschancen.
Noch immer haben in der Schweiz Kinder oder Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Haushalten geringere Chancen ins Gymnasium oder in eine anspruchsvolle Berufslehre zu kommen als solche aus beispielsweise bildungsnahen Haushalten.
Die Schulen sollten die Leistung der Kinder mit anderen Instrumenten beurteilen als ausschliesslich mit Noten.
In einem inklusionsorientierten Unterricht sollte sich die Schule ausserdem auf den Weg machen, die Leistung der Kinder mit anderen Instrumenten zu beurteilen als ausschliesslich mit Noten. Für mehr Chancengerechtigkeit muss sich auch eine Erkenntnis festsetzen: Schulen leisten enorm viel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Volksschule ist sozusagen die letzte Kammer in der Gesellschaft, wo sich verschiedene Bildungsschichten, Religionen, politische Gesinnungen und Kulturen treffen. Schulen und ihre Akteure sollten offen auf Veränderungen reagieren und einen hohen Willen zur Weiterentwicklung an den Tag legen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Digitalisierung. Wir müssen Kinder fit machen für digitale Technologien und ihre Medienkompetenz schulen. KI sollte bewusst, aber mit Vorsicht im Unterricht eingesetzt werden. Das alles gelingt nur, wenn Eltern, Behörden und ganz allgemein die Gesellschaft Vertrauen in die Schule haben und sie nicht zur Kampfzone verkommen lassen.»
3. Wie sieht die Politik von morgen aus, Konstanze Mohr?
«Für die Zukunft der Schweiz wünsche ich mir eine Gesellschaft, welche die Demokratie verstärkt aktiv lebt, mitgestaltet und wertschätzt. Im vergangenen Jahr hatte ich das Glück, für den Zukunftsrat U24, einen Bürger- und Bürgerinnenrat, ausgelost zu werden.
Bürger- und Bürgerinnenräte bilden die Bevölkerung durch eine Losung repräsentativ ab. Solche Gremien sind wichtig, da bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Personen mit Migrationshintergrund oder Beeinträchtigungen, aber auch junge Erwachsene und Jugendliche in der heutigen politischen Landschaft unterrepräsentiert sind. Es sollte in unser aller Interesse sein, dass alle, die von Entscheidungen betroffen sind, diese auch treffen können.
Das Format Bürger- und Bürgerinnenrat kann dazu einen Beitrag leisten. So kann man sich über Themen wie soziale Chancengerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder auch Aussenpolitik austauschen und Sichtweisen von Personen anhören, die die Bevölkerung repräsentativ vertreten. Es können zuletzt Handlungsempfehlungen und Leitlinien verabschiedet werden, wie es der Zukunftsrat U24 zur Thematik ‹Verbesserung der psychischen Gesundheit› gemacht hat.
Durch stärkeren Austausch kann man einer Polarisierung entgegenwirken.
Ein Bürger- und Bürgerinnenrat ist nicht nur bereichernd für die Teilnehmenden, sondern bringt auch der Gesellschaft – also uns als Schweiz – einen Mehrwert: Es werden Menschen gehört, die in bestehenden Gremien unterrepräsentiert sind. Durch stärkeren Austausch kann man einer Polarisierung entgegenwirken. Zudem können Kompromisse entstehen, die auf mehr Anklang stossen, weil sie durch ein bevölkerungsrepräsentatives Gremium ausgearbeitet wurden.
Für die Zukunft der Schweiz wünsche ich mir, dass wir offen sind für die Weiterentwicklung unserer Demokratie. Sei dies durch Bürger- und Bürgerinnenräte, die die heutige Politiklandschaft ergänzen, oder mit anderen Formaten. Ich erhoffe mir, dass wir so dringend anstehende Themen wie die Klimakrise und die gesellschaftliche Spaltung gemeinschaftlich und tatkräftig angehen können.»
4. Wie sieht die Ernährung von morgen aus, Johanna Herrigel?
«Wenn es um unsere zukünftige Ernährung geht, heisst die Lösung für uns Agrarökologie. Unsere Stiftung Biovision versteht darunter ein nachhaltiges Ernährungssystem, das die ganze Lebensmittelversorgung gerecht und im Einklang mit der Natur ausgestaltet, vom Feld bis auf den Teller.
In der agrarökologischen Landwirtschaft werden Lebensmittel umweltfreundlich und tiergerecht produziert. Das heisst: ohne Pestizide, chemischen Dünger und Gentechnik. Die gesamte Wertschöpfungskette ist möglichst regional, transparent und fair, sodass Konsumierende und Produzierende näher zusammenrücken.
Agrarökologie geht über die Landwirtschaft hinaus, sie beinhaltet auch die Verarbeitung, Handel, Gastronomie und politische Strukturen. Alle Menschen in dieser Kette werden gerecht behandelt und fair entlöhnt. Im aktuellen Ernährungssystem, das nicht nachhaltig und nicht gerecht ist, sind die Natur und die Bauernfamilien die Verlierer: Sie werden ausgebeutet. Dabei existieren zukunftsfähige und attraktive Lösungen für unsere Landwirtschaft und Ernährung.
Praxisbeispiele zeigen: Agrarökologie funktioniert, auch bei uns in der Schweiz, schon heute. Mit unserem Sensibilisierungsprojekt ‹Clever› geben wir Handlungsempfehlungen heraus: Verwende, was Du gekauft hast; ernähre Dich vorwiegend pflanzlich; kaufe saisonal und regional ein; orientiere Dich an Fair-Trade- und Umweltlabels und setze Dich bewusst mit Ernährung auseinander.
Nur gemeinsam können wir unsere Lebensmittelversorgung ökologisch und gerecht gestalten. Dafür braucht es alle.
Biovision engagiert sich für die Agrarökologie in der Projektarbeit in Afrika, in der Schweiz und international auf politischer Ebene. Angesichts von Klima- und Biodiversitätskrise tut rasches Handeln not. Nur gemeinsam können wir unsere Lebensmittelversorgung ökologisch und gerecht gestalten. Dafür braucht es alle. Biovision versucht Brücken zu bauen, zwischen Landwirtschaft, Handel und Umweltschutz.»
5. Wie sieht die Kulturförderung von morgen aus, Hedy Graber?
«Zunächst finde ich, dass die Schweizer Kulturbranche im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern in einem sehr komfortablen Zustand ist. Aus der Perspektive der Kulturfinanzierenden ist die Kulturförderung in der Schweiz sowohl von privater Seite als auch von der öffentlichen Hand sehr gut finanziert. Es darf natürlich immer mehr sein!
Ein Anliegen für die Zukunft ist, dass Wirtschaft und Politik erkennen, dass Kultur ein zentraler Wert in der Gesellschaft ist. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass gerechtere Kulturpolitik etwas kostet und die Budgets aus heutiger Perspektive nicht steigen. Deswegen wird es zukünftig zu Umverteilungen kommen.
Das heisst zum Beispiel, Kulturprojekte bereits in der Ideenphase finanziell zu unterstützen, um sie nachhaltig aufzustellen. Anschliessend können sie mit gezielter Förderung zu den Menschen gebracht werden. Damit geht auch eine Verzichtsplanung einher, die uns in Zukunft leider erwarten wird.
Dem Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler ging es darum, Zugang zu schaffen. Zugang bedeutet Teilhabe. Und da müssen wir uns heute und in Zukunft vor allem den globalen Herausforderungen stellen. Wie gehen wir mit ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit um? Beim Forum Kultur und Ökonomie, wo sich öffentliche und private Kulturfördernde zusammengeschlossen haben, diskutieren wir das an jährlichen Tagungen. Das Migros-Kulturprozent finanziert zum Beispiel gemeinsam mit Pro Helvetia einen Emissionsrechner, der Ende Jahr an den Start geht.
Eine Vision für Berufe in den darstellenden Künsten wäre es, Kitas zu haben, die auch nachts geöffnet sind.
Wir engagieren uns auch für faire Praxen, um prekären Zuständen entgegenzuwirken. Fragen zu Integration und Inklusion in kulturellen Projekten spielen ebenfalls eine zentrale Rolle. Bei der Frage von Vereinbarkeit von Beruf und Familie wäre als Vision für Berufe in den darstellenden Künsten etwa eine Kita zu nennen, die in der Nacht geöffnet hat.
Das Forum Kultur und Ökonomie widmet sich nächstes Jahr dem Thema künstliche Intelligenz und Kulturfinanzierung. Werden Gesuche beispielsweise zukünftig mit KI erstellt und beurteilt? Was bleibt dann übrig? Wir sollten uns für diese Fragestellungen öffnen. Wohl wissend, dass wir die Antworten wahrscheinlich nicht kennen, aber gemeinsam suchend wertvolle Ansatzpunkte finden können.»